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Ein Weihnachtskrimi, Teil 2: Der Einbruch

08.12.2025

Das Fensterglas liegt in Scherben. Das Haus ist verwüstet. Und mitten in diesem Chaos: Das Paket.

Wiederholtes Klingeln riss ihn aus dem Schlaf.

Nicolas wendete sich – merkte, wie er beinahe stürzte, riss seinen Arm hoch und schaffte es, sich gerade noch rechtzeitig am Wohnzimmertisch zurückzustossen. Moment mal … Wohnzimmertisch? Schlaftrunken wie er war, brauchte er einen Augenblick, um zu sich zu kommen. Seine verschwommene Sicht schärfte sich und verschiedene Gegenstände traten zutage: ein kupferfarbener Kronleuchter, ein neoklassizistischer Sessel, weisse Leinentücher, das Paket. Geöffnet.

Er richtete sich auf. Sein Kopf dröhnte.

Er musste auf dem Sofa eingeschlafen sein, während er über das Paket rätselte. Und gerade wurde ihm bewusst, dass er mit Ende zwanzig bereits über das Alter hinaus war, an dem das keine Konsequenzen hatte. Das Sofa war nicht gerade bequem, und das Wohnzimmer nicht gerade warm. Er gähnte, fuhr sich durch sein noch ungezähmtes Haar – und zuckte zusammen, als es wieder an der Tür läutete.

Ding-dong!

Das Geräusch bohrte sich auf direktem Weg in seinen Schädel, liess das Pochen seiner Schläfe weiter anschwellen, geradezu aufpeitschen. Er kniff die Augen zusammen, massierte sich mit Daumen und Zeigefinger das Nasenbein, doch weder der Schmerz noch das eindringliche Klingeln versiegten. Ding-dong. Ding-dong. Ding-dong ding-dong.

«Ja, ich bin ja gleich da, meine Güte!»

Er stand auf, wankte eilig zur Eingangstür. Ein Klopfen folgte. Es klang kräftig, wie das eines erwachsenen Mannes. Oder das einer ausgebildeten Polizistin, wie er sich nach einem kurzen Blick durch den Spion eingestehen musste. Marie Lemaire stand vor der Eichenholztür und starrte direkt in den Spion hinein; ihre Stirn gerunzelt, Ungeduld in ihren Zügen. Durch den Glaskugeleffekt jedoch sah sie auf eine witzige Weise klein und harmlos aus.

Sie holte wieder zum Klopfen aus, doch in einem Wimpernschlag verschwand die Holztür unter ihren Knöcheln und das blasse, übermüdete Antlitz von Nicolas Fuchs erschien. Augenblicklich schlug ihm die eisige Kälte des Winters ins Gesicht. Unter zusammengezogenen Augenbrauen warf er ihr einen genervten Blick zu. Marie aber schien davon ungerührt.

«Ich dachte schon, es wäre etwas passiert», sagte sie, die Ruhe selbst.

Erst verschlug es ihm die Sprache. «Und ich erst!», erwiderte er dann.

Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuss. Er trug das Hemd von gestern, doch heute war es zerknittert, und darunter sass ganz unpassend eine weit geschnittene, grau-karierte Pyjamahose. Sein schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab. Er hatte noch Schlaf in den Augen, rieb sie, ehe er weitersprach. «Keine Sorge, Ihr Hauptverdächtiger läuft Ihnen schon nicht davon.» Er gähnte. «Nicht bei der Kälte. Und nicht in der Frühe.»

Sie verschränkte die Arme. «Es ist ein Uhr nachmittags.»

Diese Info schien ihn wachzurütteln. Ungläubig sah er hoch, blinzelte angestrengt, geblendet von der tiefen Wintersonne. Eilig hob er sein Handgelenk, wollte die Zeit ablesen – doch schwarze Schatten schwebten nun in seiner Sicht, und die Armbanduhr hatte er gestern Nacht abgelegt.

«Darf ich jetzt rein oder wollen wir uns gleich beide hier draussen den Tod holen?»

Er gab sich geschlagen.

 

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«Ich war heute früh bei Eveline und hab nachgefragt.» Marie stand an den Küchentresen angelehnt, während Nicolas sich ein Glas Leitungswasser nahm und eine Brausetablette hineingab. Er beobachtete, wie das Wasser allmählich trüber wurde, lauschte dem Zischen und Sprudeln, während sich das Medikament restlos auflöste. «Eveline Pfister?», fragte er dann. «Die Floristin? Sie haben sich also darüber erkundigt, wer die Hyazinthe gekauft hat?» Er erinnerte sich noch gut an ihr gestriges Gespräch – daran, dass sie ihn verdächtigt hatte, und an die Sache mit den Blumen.

«Sie … haben eine gute Intuition.» Marie liess ihn nicht aus den Augen. Er sah irgendwie fremd aus, in dieser liebevoll eingerichteten, altmodischen Küche. Würde er sie nicht benötigen, hätte er wohl auch hier alle Gegenstände mit Leinentüchern verdeckt.

«Das war keine Intuition, sondern eine einfache, logische Schlussfolgerung.» Noch während er das aussprach, merkte Nicolas, wie schroff es klang. Er massierte sich die Schläfen, fuhr sich übers Gesicht. «Entschuldige bitte, mir platzt der Schädel.»

«Sie duzen mich? Vorhin haben Sie mich noch gesiezt.»

«Ach bitte, Sie stehen in meiner Küche und sehen mir dabei zu, wie ich mir eine Schmerztablette einwerfe.»

«Und trotzdem siezen Sie mich jetzt wieder.»

Er sah sie an, mit verständnisloser, schmerzverzerrter Miene. «Was wollen Sie eigentlich?»

Doch anstatt ihm zu antworten, lachte sie. Das war das erste Mal seit Magnus Brunners Tod, dass er sie lachen sah. Ihr Lachen klang hell und sanft. Es erinnerte ihn an ein Windspiel, obwohl es doch ganz anders klang – aber es war dasselbe Gefühl; derselbe beruhigende Effekt, der alle Sorgen mit einem Mal hinfortwusch. Seine innere Unruhe ebbte ab. Das Pochen in seiner Schläfe schien sich zu legen, verschwand aber nicht. Er lächelte, hörte sofort auf damit, als er sich dabei ertappte, und griff stattdessen nach dem Glas mit Schmerzmittel.

«Oh, das solltest du nicht auf leeren Magen trinken.» Marie sah sich eilig um, öffnete den Kühlschrank und wurde sogleich von einer gähnenden Leere begrüsst.

«Ich verstehe. Ihr Hauptverdächtiger soll sich nicht mit Magenbeschwerden aus dem Verhör hinausmanövrieren.»

«Dein Hauptverdächtiger», korrigierte sie ihn, ihr Blick immer noch starr auf die leeren Fächer und Ablagen im Kühlschrank gerichtet. «Wie hast du bis heute überlebt?»

Nicolas trank das Glas in einem Zug aus, verzog das Gesicht. «Ich bin Überlebenskünstler», stiess er hervor. «Aber zurück zu Eveline Pfister.» Er wischte sich mit seinem Handrücken über die Lippen. «Hast du herausgefunden, wer die Hyazinthe gekauft hat?»

Marie schloss den Kühlschrank und lehnte sich nun gegen den Esstisch. Sie beobachtete, wie Nicolas sein Glas in das Spülbecken legte. Seine Bewegungen waren träge. «Daniela Roth», antwortete sie dann. «Die Besitzerin des Wirtshauses, wie du bestimmt auch überraschenderweise weisst, ohne je Fuss in eins der Lokale hier gesetzt zu haben. Abgesehen vom Dorfladen, vielleicht. Obwohl …», sie erinnerte sich an den traurigen Anblick vom Kühlschrank gerade eben. «Wahrscheinlich nicht mal in das. Eveline kann sich jedenfalls noch gut an den Kauf erinnern, weil er sie gewundert hat. Daniela habe sie nach einer Blume gefragt, mit der sie sich entschuldigen könne. Eveline wusste nicht, dass die Blume für das Grab gedacht war. Sie selbst vermutet aber, dass Magnus einfach über den Teppich oben gestolpert ist, und schreibt der Sache keine grosse Bedeutung zu.»

Stille. Nicolas’ Augen verengten sich. «Interessant …»

Als er nichts weiter darauf erwiderte, fuhr Marie fort: «Ich wollte Daniela dazu befragen, aber sie ist heute früh in die Stadt gefahren und kommt erst gegen Abend zurück, fürchte ich.»

Er sagte nichts dazu. Es war offensichtlich, dass er gerade in seinen Gedanken versunken war. Marie hörte das Ticken einer Uhr, drehte sich zum Flur und ordnete es einem bedeckten Möbelstück zu, bei dem es sich um eine Standuhr handeln musste. Sie stellte sich bildhaft vor, wie das Pendel der Uhr langsam hin und her schwang, wie sich die Mechanik in ihr drehte, wie ein Zahn des Räderwerks freischlug, und dann das andere. Tick. Tack. Tick. Tack. Als die Uhr schliesslich zwei schlug, so wie es sich für eine Grossvateruhr gehörte, brach Nicolas sein Schweigen.

«Ach ja», kam es aus ihm heraus. Marie wartete gespannt. «Ich habe sie gestern Nacht geöffnet. Die Büchse der Pandora.»

Erst wirkte Marie verwundert, dann jedoch stiess sie sich vom Esstisch ab, richtete sich auf – angespannt, ungläubig. Ihre Lippen spalteten sich, als würde sie etwas sagen wollen, doch sie verblieb bei einem vorwurfsvollen Blick. Wenn «Und das sagst du mir erst jetzt?!» ein bestimmtes Gesicht hätte, dann wohl dieses. Nicolas hätte mit einer Frage gerechnet. Etwas wie ein drängendes «Was war drin?», oder vielleicht auch ein tadelndes «Das hätte gefährlich sein können!». Doch Marie stellte keine Fragen. Sie liess keine weitere Sekunde verstreichen, stürmte auf direktem Wege ins Wohnzimmer. Der Parkettboden und ihre Stiefel knarzten im Einklang.

Dann folgte das, was er bereits vorhergesehen hatte. Eine angespannte Stille. Ein entsetztes Keuchen. Ein Stampfen, das lauter wurde, sich ihm immer weiter näherte. Er zog sich einen Stuhl vom Esstisch heran, setzte sich darauf und stützte die pochende Schläfe auf seiner losen Faust. Unbeeindruckt sah er Marie dabei zu, wie sie mit dem Paket in die Küche zurückkehrte. Mit einem Gang, als würde sie in das Auge eines Sturms ziehen, und einer Miene, als hätte sie jemand auf unverzeihliche Weise verraten.

«Ich warne dich», war das Erste, was sie zu ihm sagte. Sie donnerte die Kartonschachtel auf die Tischplatte vor ihm und sah ihn drohend an. «Wenn du es einfach herausgenommen hast …»

«Habe ich nicht», widersprach Nicolas, der sich über Nacht bereits damit abgefunden hatte. «Ausserdem gehört das Paket doch ohnehin mir. Schau. Da steht, dass ich der Absender bin.» Er konnte sich sein Schmunzeln nicht verkneifen.

«Kaum hat sich mein Verdacht gegen dich gelegt, verhältst du dich wieder verdächtig.»

Er lachte müde. Mit einer Hand griff er nach der Kartonschachtel, kippte sie, und stellte so ihren Inhalt zur Schau.

«Leer wie mein Kühlschrank.»

«In so einer Situation reisst du Witze?»

Sein Lächeln erstarb, als er das Beben aus Maries Stimme heraushörte. Ihre Augen, die sonst immer von Wachsamkeit zeugten, glänzten verdächtig, schienen ihre Tränen mit aller Kraft zurückzuhalten. Sie atmete tief durch. Er stand auf, wollte eine Hand auf ihre Schulter legen, zog sie aber zurück, ohne dass seine Finger den Stoff ihrer Uniform auch nur streiften.

«Du hast recht», gab er leise zu. «Tut mir leid. Ich weiss, dass es dir eine Herzensangelegenheit ist. Das war unangebracht.» 

Mit drei kurzen Schritten trat er wieder in die Küche, holte ein Trinkglas aus einem der Schränke, stellte sich aber etwas ungeschickt an, sodass die anderen dabei klirrten. Das Wasser rauschte angenehm, als er das Glas damit befüllte. Nachdem er den Hahn wieder zugedreht hatte, fügte er leise hinzu: «Ich kann mir nicht helfen; als ich sah, dass nichts drin ist, war ich … enttäuscht, aber auch erleichtert.»

Nicolas stellte das gefüllte Glas auf den Esstisch neben ihr.

«Gib mir ein paar Minuten. Ich ziehe mich oben um und erzähle dir dann von meinen Theorien dazu.»

Als sie wieder aufsah, war er bereits verschwunden.

 

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«Du glaubst also, Magnus hätte das Paket selbst verschickt?»

Sie hatten im Wohnzimmer Platz genommen. Nicolas lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte Marie ausführlich von seinem nächtlichen Gedankenkarussell berichtet, ist mit ihr alle Tatsachen durchgegangen: Dass dieses Paket an Magnus Brunners Todestag, und höchstwahrscheinlich vor dem Todeszeitpunkt in Auftrag gegeben wurde. Dass es mit Sicherheit für ihn, Nicolas Fuchs, bestimmt war. Dass der Poststempel und die Empfängeradresse – die von Brunners verstorbener Frau, deren Namen wohl nur wenige Auserwählte kannten – dazu führen sollten, dass das Paket mit Herrn Brunner in Verbindung gebracht wurde. Aber nicht eindeutig. Für eine bestimmte Person nämlich sollte das Paket nicht direkt auffindbar sein … wenn sie es denn überhaupt wagte, sich danach zu erkundigen oder danach zu suchen.

«So muss es sein. Der Täter kann es nicht versendet haben», eröffnete er langsam und vorsichtig. «Der einzige Antrieb, den er dazu hätte, wäre der, mir etwas anlasten zu wollen. Aber weshalb sollte er? Das ergäbe keinen Sinn; schliesslich war ihm bestimmt bewusst, dass die Sache als Unfalltod abgetan werden würde. Er würde das Gerücht von Mord gar nicht erst aufkommen lassen wollen.» Nicolas warf den Kopf im Sessel zurück, starrte hoch zur Decke, so als könnte er dort alle Antworten ablesen. «Herr Brunner muss es verschickt haben. Er hat seinen Tod geahnt. Vielleicht wusste er zu viel, über irgendwas. Er hat Beweise in das Paket gepackt und es versendet. Als Absicherung. Danach hat er den Mörder zur Rede gestellt. Aber da gibt es einen Logikfehler …» 

«Ja, denn das Paket ist leer», warf Marie ein. «Aber könnte es nicht sein, dass der Täter den Inhalt entnommen hat?»

«Aber wieso dann nur den Inhalt? Wieso nicht gleich das ganze Paket?» Nicolas lehnte sich vor, knetete seine Hände. «Wieso nicht gleich alles entsorgen, wenn er es schon in die Hände bekommt?»

«Vielleicht denken wir in die falsche Richtung.»

«Wahrscheinlich», stimmte Nicolas zu. «Wir müssen etwas übersehen haben. Oder nicht bedacht. Ehrlichgesagt glaube ich sogar … dass das Paket vielleicht von Anfang an leer war. Es sah schliesslich nicht so aus, als wäre es geöffnet worden. Aber wieso ein leeres Paket versenden? Und wieso dann die Warnung?» Er biss sich auf die Unterlippe. Das Paket thronte auf dem Wohnzimmertisch vor ihnen. Die Worte «Öffne mich nicht», die einst für Unbehagen gesorgt hatten, waren ihm nun ein Dorn im Auge. Etwas, für das es einen Grund geben musste. Einen Grund, den er nicht durchschaute.

«Eins ist nun aber sicher», riss Marie ihn aus seinen Gedanken. «Es war kein Unfall, sondern ein kaltblütiger Mord.»

Wenn er so darüber nachdachte, dann war es Marie gewesen, die ihn überhaupt erst auf diesen Gedanken gebracht hatte. Auf die Idee, dass es sich hierbei nicht um einen einfachen Unfalltod handelte. Er zögerte kurz, musterte sie neugierig. Dann fragte er schliesslich doch: «War es wirklich nur dein Bauchgefühl? Auf dem Friedhof nanntest du es Intuition. Aber es war mehr als das, nicht wahr?»

Sie liess sich Zeit, mit ihrer Antwort. Und es stellte sich heraus, dass sie ihm die ganze Zeit über etwas verschwiegen hatte.

 

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«Zwei hauchdünne, zentimeterlange Schnittwunden an seiner rechten Hand», wiederholte er die Worte der jungen Polizistin, flüsterte sie in die Kälte hinein. «Kurz vor oder während seines Todes entstanden. Aber da war kein Gegenstand, an dem er sich geschnitten haben könnte. Die Wunden waren nicht tief, und der Tod wirkte natürlich, also gaben sie keinen Grund zur Untersuchung.» Marie hatte ihm diesen Umstand kleinlaut gebeichtet und sich dann zur Postfiliale aufgemacht. Dort wollte sie sich danach erkundigen, ob jemand nach einem Paket von Magnus Brunner gesucht hatte. Vermutlich vergebens.

«Herr Fuchs.»

Ironischerweise war es wieder auf dem Rückweg vom Friedhof, wo man ihn abpasste. Es war beinahe wie ein Déjà-vu – schliesslich hatte er hier erst gestern ein Paket zurückbekommen, das er nie versendet hatte, und sich dabei Jonas als selbsternannten Freund eingehandelt. Doch diesmal war es nicht der Postbote Jonas, der vor ihm stand. Die Stimme war tief, grimmig, und gehörte dem Gemeindepräsidenten Sebastian Keller an, der vor ihm zum Stehen kam. Ein korpulenter Mann in seinen Fünfzigern, der ihm feindseliger nicht gesinnt sein könnte. Leute wie er mochten keine Journalisten.

«Herr Keller», grüsste er knapp und nickte höflich. «Einen schönen Tag.»

Damit wollte sich Nicolas dann auch schon wieder verabschieden. Er war gerade dabei, an ihm vorbeizulaufen, als Sebastian Keller seine klobige Hand auf seine Schulter legte. Anscheinend würde dieses Gespräch nicht bei einer einfachen Begrüssung bleiben, und auch nicht bei einer harmlosen Plauderei. Der Gemeindepräsident sah ihn eindringlich an, zog an seiner Schulter, sodass Nicolas sich ihm gezwungenermassen zuwenden musste. «Hiergeblieben.» Sein Ton war gebieterisch. Er würde keinen Widerspruch dulden. «Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Sie Unglücksbringer.»

Ob Nicolas in Zukunft lieber eine andere Route einschlagen sollte?

«Halten Sie sich kurz, es ist kalt.» Nicolas wich zurück, schüttelte damit die Hand an seiner Schulter ab. Sebastian Keller murmelte etwas Unverständliches, schien sichtlich unzufrieden. Doch angesichts seiner rotgefrorenen Rentiernase dürfte er nicht viel dagegen einzuwenden haben. «Ich warne Sie, Herr Fuchs», setzte er an. Das war schon das zweite Mal an diesem Tag gewesen, dass ihn jemand so nachdrücklich warnte. Marie war den anderen anscheinend immer um einen Schritt voraus: Ob es nun darum ging, ihn zu beschuldigen, oder darum, ihn zu warnen.

«Stecken Sie Ihre Nase nicht in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen», fuhr Sebastian Keller fort. Er hob den Zeigefinger und hielt ihn Nicolas mahnend vor. «Sie stechen gerade in ein Wespennest, junger Mann. Wenn Sie nicht sofort damit aufhören, wird das schwerwiegende Konsequenzen haben, das verspreche ich Ihnen!» Mit jedem Wort rückte der Gemeindepräsident näher an ihn heran, bis sein Gesicht schliesslich direkt vor dem seinen war. Unangenehm.

«Ich stecke meine Nase nicht in Angelegenheiten, die mich nichts angehen», versicherte Nicolas und brachte wieder etwas Abstand zwischen sich und den Gemeindepräsidenten. «Diese Zeiten sind vorbei.»

«Das will ich schwer für Sie hoffen.»

Gerade, als er dachte, er könne sich verabschieden, holte Sebastian Keller zu einer weiteren Predigt aus. Nicolas lauschte mit halbem Ohr, liess seinen Blick über den langen schwarzen Mantel seines Gegenübers gleiten, der dünn, aber hochwertig schien, sah dann an ihm vorbei und durch das Schaufenster eines Blumenladens hindurch. Eveline Pfister stellte gerade Blumensträusse zusammen. Er beobachtete sie dabei, wie sie sich in ihrem Rollstuhl durch den Laden bewegte. Sie erreichte ihren Arbeitstisch, hob mit ihren behandschuhten Händen einige Rosen von ihrem Schoss auf und begann damit, sie zu einem Strauss zu binden. Ein paar Strähnen ihres hellblonden Haars hatten sich aus ihrem Zopf gelöst. Sie versuchte vergeblich, sie mit dem Handrücken hinters Ohr zu streichen.

«… haben Sie mich verstanden?», fragte Sebastian Keller schliesslich und holte Nicolas ins Hier und Jetzt zurück. «Natürlich», versicherte er, ohne ihm zugehört zu haben. «Ich schreibe es mir hinter die Ohren … oder so ähnlich.» Inzwischen war die Nase nicht das einzige an Herr Keller, das rot hervortrat. Seine Wut hatte sein gesamtes Gesicht anlaufen lassen.

«Sollte mir je wieder zu Ohren kommen, dass Sie herumschnüffeln, können Sie etwas erleben!»

Und damit trennten sich ihre Wege.

 

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Es war schon lange dunkel, als Nicolas aus dem Dorfladen trat. Alle anderen Läden hatten inzwischen geschlossen. Nach 21 Uhr herrschte eine Totenstille, in diesem kleinen Bergdorf, und einzig und allein das Wirtshaus hatte noch Leben zu verlauten. Er war lange herumgeirrt; erst wieder zum Grab zurückgekehrt, um sich über etwas zu vergewissern, dann ziellos umhergelaufen, um seine Gedanken zu ordnen. Beinahe hätte der Laden geschlossen, ehe er seinen Einkauf erledigen konnte.

Auf dem Weg nach Hause – wobei er diesen Ort nie als sein Zuhause angesehen hatte – kramte er ein Sandwich aus seiner Einkaufstüte. Er schälte es aus der Verpackung und biss hinein. Sein Magen würde es ihm danken.

Sein Körper fühlte sich steif an; die Eiseskälte der Nacht hatte sich in seine Glieder gefressen. Er beeilte sich, zwang seine Beine schnellen Schrittes voran, auch wenn jeder Muskel dagegen protestierte, schmerzte und zerrte. Als er sich seiner Unterkunft näherte, erwartete ihn jedoch nicht die leblose Kulisse, die sich ihm sonst immer bot.

Es war nicht dunkel.

Es war nicht leer.

Es war nicht still.

Vor seiner Unterkunft drängte sich eine Menschentraube: Schaulustige, die ihre Smartphones und Taschenlampen wie kleine Suchscheinwerfer auf die Fensterscheiben richteten; zwei gelangweilt wirkende Polizisten, die mit ausladenden Gesten die Menge zurückdrängten; mehrere Mütter, die ihre Kinder dicht an sich heranzogen, als könnte allein ihre Nähe sie vor dem schützen, was dort drinnen vorgefallen war. Gedämpfte Stimmen mischten sich mit dem Schnauben des kalten Windes, ein nervöses Murmeln ging durch die Reihen – eine gespannte Unruhe, die wie ein unsichtbarer Puls in der Luft hing.

«Brechen wir die Tür auf!», hörte er Marie Lemaires zittrige Stimme durch die Menge dringen. Sie klang wieder so, als stünde sie den Tränen nahe. «Was, wenn ihm etwas zugestossen ist? Was, wenn er Hilfe braucht?» Er erkannte die Verzweiflung in ihrer Stimme, spürte, wie sie ihm durch Mark und Bein ging.

Aber … von wem sprachen sie da? Und was war passiert? Doch nicht etwa …

Er liess seine Einkaufstüte fallen, hatte schon längst vergessen, dass er sie in der Hand hielt. Erst taumelte er ein paar Schritte vor. Als ihm die Lage endlich dämmerte, zwängte er sich eilig in die Menschenmenge hinein, drängte sich zwischen den dick gepolsterten Jacken hindurch, stolperte beinahe. Es war genau wie vorletzten Montag. Der Montag, an dem Magnus Brunner reglos vorgefunden wurde. Der Montag, an dem das penetrante Geräusch von Sirenen ihn in aller Frühe aus seinem traumlosen Schlaf gerissen hatte. Der Montag, an dem er zögerlich zum Fenster getreten war, das Geschehen vom Schlafzimmer aus beobachtet hatte. Blaue Uniformen. Polizei. Menschen, die angespannt warteten. Eine Trage. Ein weisses Tuch.

Nein … das durfte nicht sein. Nicht schon wieder.

«Lassen Sie mich bitte durch», flehte er atemlos, keuchte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es durfte nicht noch jemandem etwas passiert sein; erst recht nicht wegen ihm. Nicht wegen seinen unbedachten Ermittlungen, nicht wegen seiner Unachtsamkeit.

Als er es schliesslich aus der Menge schaffte, strauchelte er, fiel auf die Knie. Marie, die energisch auf ihren Kollegen eingeredet hatte, verstummte. Sie war bleich im Gesicht. Es war, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Ein Polizist stand vor einem der Fenster, leuchtete hinein. Das Glas war zerbrochen. Und das, was noch davon übrig war – Scherben, die wie spitze Fragmente aus dem Fensterrahmen ragten – glitzerte im Licht der Taschenlampen.

«Nicolas!»

Eveline Pfister

Eine sanftmütige Floristin, die sich für keinen Zuspruch zu schade ist. Sie ist 45 Jahre alt und strotzt nur so vor Lebensfreude. Ihr engelsgleiches Wesen und ihre unvergängliche Schönheit sind stets in aller Munde. Aufgrund einer Lähmung ist sie auf den Rollstuhl angewiesen – ein weiterer Antrieb für sie, sich mit umso grösserer Hingabe ihrer Stiftung zu widmen.

Daniela Roth

Eine selbstbewusste und kräftige Gastwirtin, die ihr Wirtshaus mit sicherer Hand führt. Mit ihren 48 Jahren gilt sie bereits als das Rückgrat des Dorfes; resolut, praktisch veranlagt und mit einer Stimme, die selbst die lautesten Stammgäste verstummen lässt. Hinter ihrer harten Schale verbirgt sich jedoch ein weicher Kern, und bei einem Hilferuf ist sie immer als Erste zur Stelle.

Sebastian Keller

Der pflichtbewusste, wenn auch verschlagene Gemeindepräsident des Bergdorfes. Er ist 55 Jahre alt und kann je nach Laune älter oder jünger wirken. Obschon er sich gerne mal im Ton vergreift, hat er im Grunde nur eins im Sinn: Das Wohlergehen seiner Gemeinde. Seine Verlässlichkeit sowie die Fürsorge seiner kranken Frau gegenüber lassen viele seine charakterlichen Aussetzer verzeihen.

Quelle Titelbild und Charakterbilder: Sora AI

Quelle dekorative Devider: Adobe Stock | 1574399334

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Duygu Özdemir

Marketing Manager Editorial Content

Wenn ich mal nicht gerade damit beschäftigt bin, meiner literarisch-kreativen Ader freien Lauf zu lassen, stecke ich höchstwahrscheinlich in einem Netflix-Marathon fest («Nur noch eine Folge!»), unterhalte ich mich angeregt über die verschiedensten Themen, lese ein gutes Buch oder fordere mich selbst mit einem neuen Hobby heraus. Meine Wissbegierde kennt keine Grenzen, und hier habe ich die Möglichkeit, sie auszuleben und mit anderen zu teilen.

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