
Ein Weihnachtskrimi, Teil 1: Das Paket
Er bekommt ein Paket. Versendet hat er es angeblich selbst. Auf dem Paket steht: Öffne mich nicht.
Es musste der kühle Wind sein, der sein Herz erzittern liess. Reflexartig grub er seine Hände tiefer in seine Manteltaschen, zog seinen Kopf ein, seufzte in den warmen Strickschal, den ihm Herr Brunner aufgedrängt hatte – und der ihm trotz allem keine Wärme spenden konnte. Wie denn auch? Er erfror von innen heraus. Es war wie Schüttelfrost ohne Fieber, ohne Muskelzittern, doch ebenso unnachgiebig, ebenso kalt.
In ihm herrschte Winter. Zu einer Zeit, in der die Herzen so warm wie die Tage kühl sein sollten.
Die Bäume waren nahezu kahl, ihre wenigen Blätter von Raureif umrahmt. Der erste Schnee würde nicht lange auf sich warten lassen, hatte sich dieses Jahr bereits zu genüge verspätet. Irgendwo in der Ferne krähte ein Rabe. Ein Geräusch, das sich wunderbar in die Kulisse fügte, den trostlosen Anblick vergangener Leben unterstrich. Ein Geräusch, das unter anderen Umständen vielleicht ein schlechtes Omen verkündet hätte, an jenem Tag jedoch wie ein Nachhall klang. Wie das Echo eines Unheils, das bereits geschehen war.
Vor ihm stand ein Grabstein. Er fixierte die Inschrift. Dr. Magnus Brunner. Er schluckte, und der Kloss in seinem Hals wurde grösser. Wie hätte er ahnen können, dass er so bald schon nicht mehr ihm, sondern seinem Grab gegenüberstehen würde?
«Er ist von der Treppe gestürzt», hiess es. Ein Unglück, das sich über Nacht in seinen eigenen vier Wänden ereignet haben soll. Seither hatte sich ein dunkler Schleier über das Dorf gelegt; schien sich von Tag zu Tag zu verdichten, statt zu lösen, und schlug langsam, aber sicher in dicke Luft um. Kein Wunder. Im Gegensatz zu ihm war Herr Brunner ein geliebter Anwohner gewesen. Wohlwollend. Gutherzig. Warm. Doch seit über einer Woche … nicht mehr da.
Er sah hinunter. Vor dem Granitstein lagen verschiedene Blumen, fein säuberlich aneinandergereiht. Sein Blick blieb an zwei bestimmten hängen. Eine rote Rose und eine violette Hyazinthe. Letztere hatte gestern noch nicht hier gelegen.
«Das ist schon der dritte Tag in Folge, an dem Sie hier sind.»
Ihre Stimme überraschte ihn nicht. Ihre schwerfälligen Polizeistiefel hatten sie bereits angekündigt, knarzten verräterisch, wenn sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. Er antwortete nicht. Sie trat näher. Er spürte, wie ihre Augen sich in seinen Hinterkopf bohrten.
«Wo waren Sie vorletzten Sonntag zwischen 21 und 23 Uhr?»
Das veranlasste ihn nun doch dazu, sich auf ein Gespräch mit ihr einzulassen. Er wandte sich vom Grabstein ab, begegnete ihrem argwöhnischen Blick mit meisterhafter Gelassenheit und einem Hauch Neugierde. Davon beirren liess sie sich aber nicht. «Jetzt spielen Sie nicht den Unwissenden», fuhr sie fort, und Herr Brunner hatte wieder einmal recht behalten: Tatsächlich rümpfte sie unmerklich die Nase, wenn sie verärgert war. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er ihm grinsend davon erzählt hatte, vor nicht allzu langer Zeit. Zu Lebzeiten. «Es ist kaum drei Monate her, dass sie zugezogen sind, und schon … geschieht so etwas. Magnus war der einzige, mit dem Sie in Kontakt standen – uns grüssen Sie nicht einmal.»
Sie wollte weiter ausholen, hielt aber inne, als sich ein müdes Lächeln auf seine Lippen legte. Es musste fremdartig an ihm aussehen.
«Guten Tag», grüsste er sie schliesslich. «Wie geht es Ihnen, Frau Lemaire?»
Sie wirkte verdutzt. Einige Sekunden lang musterte sie ihn still. Dann, nahezu ungläubig: «Sie wissen, wie ich heisse.»
Er lachte humorlos, drehte sich ihr nun vollständig zu. «Marie Lemaire», begann er wie zur Bestätigung. «Sie glauben also, es war kein Unfall? Und ist das der geschätzte Todeszeitpunkt? Sonntag, zwischen 21 und 23 Uhr?»
Sie verstummte.
«Sie haben sicherlich Beweise?»
Wieder antwortete Marie nicht, biss sich auf die Unterlippe. Es war offensichtlich, dass sie gerade aus Eigeninitiative handelte; nicht im Auftrag des Reviers, nicht als Polizistin, wenn auch in der zugehörigen Uniform.
«Was ist es dann?», hakte er nach.
«Intuition.»
Ein Bauchgefühl also. Viele hätten es abgetan, doch er wusste, dass auch Intuition seine Gründe hatte. Gründe, die sie ihm nicht nennen würde.
«Und Ihre Intuition sagt Ihnen, dass ich es war? Oder würden Sie es einfach nicht ertragen, wenn es jemand anderes wäre? Jemand, der ihnen nicht so fremd ist wie ich.»
Sie schwieg, liess ihn jedoch nicht aus den Augen. Er konnte es ihr nicht verübeln. Es musste verdächtig wirken; ein kleines Bergdorf, das mit jedem Jahr weiter ausdünnte – doch während andere ihre Sachen packten, immerzu davon träumten, diesen vermaledeiten Ort irgendwann hinter sich zu lassen, sich von den Fesseln der Gewohnheit und Bequemlichkeit zu lösen und in der Stadt neu anzufangen, hatte er genau dort seine Karriere zurückgelassen. Er war jung, offenkundig ein Stadtmensch, und obendrauf ein Journalist. Mit einem Werdegang, der nur einen Klick entfernt war, und nur noch mehr Fragen aufwarf.
«Nein», antwortete sie schliesslich. «Am liebsten wäre es mir, wenn es wirklich nur ein Unfall wäre.» Sie klang bedrückt. Wenn er sich nicht täuschte, schwang im Unterton eine Entschuldigung mit. Offenbar eine Person mit viel Stolz, aber nicht unbedingt rücksichtslos.
Er wandte den Blick ab, merkte nicht, wie er mit einer Hand über seinen Schal strich; spürte den Stoff kaum, so klamm waren seine Finger. Sein Lächeln schwand, hatte ohnehin nie seine Augen erreicht. Es dauerte etwas, bis er das Wort ergriff.
«Herr Brunner war voller Tatendrang», platzte es aus ihm heraus. «Aber unvorsichtig war er nicht.»
Die junge Polizistin sah auf. Sie schien leicht verwundert, verstand aber sofort.
«Sie denken also auch …»
«Ich denke gar nichts», unterbrach er sie. Er trat einen Schritt zur Seite, gab damit den Blick auf das Grab frei und deutete mit einem Nicken auf die Blumen davor. «Ich weiss nur, dass violette Hyazinthen für Reue stehen. Sie sind eine Entschuldigung. Es gibt vieles, wofür man sich entschuldigen könnte – doch das ist das erste Mal, dass ich sie auf einem Grab sehe.»
Sie sah ihn an; verwirrt, unsicher, ehe sie eilig an ihm vorbeischritt und sich vor das Grab kniete. Er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie ihre zittrige Hand nach der Blume ausstreckte, mitten in der Bewegung jedoch verharrte, den Arm wieder zurückzog, tief durchatmete. Ein Nebelhauch bildete sich vor ihren Lippen, verblasste aber in der Kälte. Er hatte bereits geahnt, dass sie das in ihrer Annahme weiter bestärken würde. Dass sie sich nur noch mehr daran festbeissen würde. Herr Brunner hätte ihn mit Sicherheit gerügt – und gerade wünschte er sich nichts mehr als eine Predigt von ihm, eine Rüge, eine kleine Lebensweisheit, irgendwas. Aber er hatte längst einsehen müssen, dass er seine Stimme nie wieder hören würde, so unwirklich dieser Gedanke auch war.
«Wissen Sie», flüsterte er, kontrolliert, aber merklich bitter. «Herr Brunner war der Einzige in diesem Dorf, der mich nicht wie einen Fremdkörper behandelt hatte.»
Marie liess seine Worte einsacken. Als sie sich wieder fing und ihm zuwenden wollte, war Nicolas bereits fort.
«Herr Fuchs!»
Eine tiefe, freundliche Stimme riss ihn aus seiner Gedankenwelt. Der Tonlage zufolge war das nicht der erste Ausruf gewesen. Er hielt an, hob den Blick, den er zuvor starr auf die Steinpflaster vor ihm gerichtet hielt, und sah geradewegs in das fragende, leicht besorgte Augenpaar von Jonas Schmid. Der Postbote, dick eingepackt in seinem Postgewand. Hochgewachsen wie er war, musste Nicolas leicht aufsehen. Er wirkte munter, hatte trotz der eisigen Wintertage keine Farbe eingebüsst.
«Ist alles in Ordnung, Herr Fuchs?» Jonas fasste sich mit seiner behandschuhten Hand an den Nacken, als Nicolas nichts erwiderte – eine Bewegung, die er schon oft bei ihm beobachtet hatte. Ob das wohl Nervosität war? Oder Verlegenheit, vielleicht? Jonas aber war noch nie jemand gewesen, der lange um den heissen Brei herumredete, und so fiel er gleich mit der Tür ins Haus: «Sie sind ja noch viel abwesender als sonst, Herr Fuchs. Haben Sie mich nicht entgegenlaufen sehen? Wobei ich wohl nicht vorschnell urteilen sollte, denn wie heisst es noch gleich? ... Ach ja! Stille Wasser sind tief. Dass Sie so böse Streiche spielen, hätte ich aber nicht erwartet.»
Ein strahlendes Lächeln gepaart mit unbedachten Worten. Jonas, wie er leibte und lebte.
«Ein Streich?», fragte Nicolas, kurz angebunden, folgte dann seiner Geste. Erst jetzt bemerkte er das Paket, das Jonas unter seinem linken Arm geklemmt hielt. Jonas nahm es in beide Hände und hielt es ihm mit einem wissenden Grinsen unter die Nase.
«Sie wollten wohl Ihrer Ex in Zürich einen Schrecken einjagen», meinte er daraufhin. «Aber sie scheint da nicht mehr zu wohnen, und das Paket kam zurück. Heute früh habe ich auf Ihren Briefkasten zwar einen Zettel geklebt, damit Sie es abholen kommen, doch als ich Sie gerade vorbeilaufen sah …», er deutete mit seiner Mimik zur Postfiliale, «dachte ich, ich spar’ Ihnen den Weg.»
Nicolas’ Aufmerksamkeit galt allerdings ganz dem Paket. Ein mittelgrosser Karton, auf dem mit rotem Filzstift die Worte «Öffne mich nicht.» gekrizelt wurden. Insgesamt wirkte es fragwürdig, vielleicht sogar bedrohlich – und wäre er nicht so ausgebrannt, hätte es vielleicht seine journalistische Neugier geweckt.
«Was ist da drin?» Jonas hingegen schien keinen Hehl aus seiner Neugierde zu machen. «Ein Drohbrief, für den Sie Buchstaben aus der Zeitung ausgeschnitten und nebeneinander aufgeklebt haben? Blumen? Fotos? Viel kann es ja nicht sein, es ist schliesslich ausgesprochen leicht.»
«Das Paket hat mit mir nichts zu tun», erwiderte Nicolas und machte einen Bogen um Jonas herum. Vergeblich, denn er begann, ihm zu folgen.
«Ich verstehe, dass Sie das nicht zugeben wollen», versicherte er ihm mit einem Schmunzeln und holte zu ihm auf. «Aber dann hätten Sie die Versandadresse vielleicht weglassen sollen. So hätte sie doch direkt bemerkt, dass es von Ihnen kommt. Sehr nachlässig von Ihnen, geschätzter Herr Nicolas Fuchs, wohnhaft in ...»
Nicolas blieb stehen – und Jonas, der witzelnd hinter ihm hertrottete, lief geradewegs in ihn hinein.
«Oh, Verzeihung, ich wollte gerade die Adresse vorlesen und …»
«Ich habe das Paket nicht versendet.»
«Bitte?» Jonas’ Miene wich der puren Verständnislosigkeit. Hastig stellte er sich vor ihn und hielt ihm abermals das Paket vors Gesicht. «Vielleicht haben Sie es einfach vergessen? Sehen Sie doch, hier!», er zeigte mit dem Finger auf den Versender, «Hier steht Ihre Adresse. Und hier ist unser Poststempel – das Paket wurde definitiv bei uns in Auftrag gegeben.»
War heute der Tag, an dem man ihn von allen Seiten aus beschuldigte? Hatten sich alle Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner gegen ihn verschworen? Erst der Mord an Magnus Brunner, der offiziell als Unfall ad acta gelegt worden war, und jetzt ein Rachefeldzug gegen eine Ex, die er nie hatte. Er konnte kaum erwarten, herauszufinden, was man ihm als nächstes vorwerfen würde.
«Wenn das Paket bei euch in Auftrag gegeben wurde», schlug er vor, «dann können Sie bestimmt auch herausfinden, wer es in Auftrag gegeben hat.» Er drückte das Paket von seinem Gesicht weg und hob die Brauen, als Jonas zu einer Antwort ansetzte.
«Es wäre aufgefallen, wären es nicht Sie gewesen. Da bin ich mir sicher.»
«Aber es wäre nicht aufgefallen, hätte es jemand bei der Paketbox eingeworfen.»
Jonas liess vor Schreck das Paket los, sodass es an Nicolas lag, es aufzufangen. Er reagierte schnell – und so kam es nun doch dazu, dass er die ominöse Schachtel entgegennahm.
«Daran hatte ich noch gar nicht gedacht!», rief der Postbote aus und hielt sich eine Hand vor die Lippen. «Ich werde gleich mal nachfragen!» Und ehe Nicolas ihn aufhalten konnte, winkte Jonas ab und verschwand in der Postfiliale. Er sah ihm hinterher, leicht gereizt, beschloss dann aber, das Paket zu inspizieren. Tatsächlich stand da seine Adresse. Die Empfängeradresse gehörte einer Frau namens Manuela Schneider, wurde jedoch durchgestrichen und als fehlerhaft markiert.
Erst dachte er, es würde sich dabei einfach um einen böswilligen Scherz handeln. Man mochte ihn nicht. Man vertraute ihm nicht. Da läge der Gedanke wohl nicht fern, ihm auf diese Art und Weise eins auswischen zu wollen.
Dann aber sah er auf den Poststempel. Sein Herz machte einen Sprung.
Das Datum … es war der Tag nach Magnus Brunners Todestag. Ein Montag.
Ob das noch Zufall sein konnte?
Es hatte sich herausgestellt, dass das Paket tatsächlich anonym eingeworfen wurde. Man hatte es Montagmorgen mit einem Stempel versehen und kurz darauf verladen. Es wurde am Vortag online frankiert, dabei mit Nicolas’ Daten versehen und in die Paketbox geworfen.
Nun aber lag es auf seinem Wohnzimmertisch und wurde kritisch von ihm beäugt. Seit gut eineinhalb Stunden.
Er dachte nach.
Ein Paket, in Auftrag gegeben an Magnus Brunners’ Todestag. Weil die Empfängerin nicht ausfindig gemacht werden konnte, kehrte das Paket, das er nie versendet hatte, wieder zu ihm zurück. Zu Nicolas Fuchs, dem neuen Fremden. Einem Journalisten, der seine Karriere auf Eis gelegt hatte und in dieses Dorf eingedrungen war. Einer Person, die gemieden wurde, und stets auch mied. Niemand würde ihm Fragen stellen, ganz egal, was für schräge Pakete er aufgibt – er war schliesslich Journalist, und irgendetwas würde er sich dabei schon gedacht haben. Nein, Gerüchte hätte es bestimmt gegeben, hätte Herr Brunners Tod sie nicht überschattet. Aber wieso dann er?
Ob ihm damit wohl jemand etwas sagen wollte? Oder vielleicht sogar etwas anhängen?
«Doch wieso sollte man dann draufschreiben, dass das Paket nicht geöffnet werden soll?», sinnierte er leise vor sich hin. «Ganz gleich, wie ich es drehe und wende … es wirkt wie ein Versuch, mir etwas unterzuschieben.»
Er beugte sich weiter vor, rückte bis zur Kante seines Sessels. In seinen Gedanken ging er das Gespräch mit der Polizistin Marie Lemaire nochmal durch. Vielleicht war ihre Intuition nicht ganz unbegründet. Vielleicht steckte hinter dem Treppensturz mehr, als es den Anschein hatte. Mehr als ein Ausrutscher. Mehr als ein fehlplatzierter Schritt. Und vielleicht war in diesem Paket … die Tatwaffe? Oder womöglich ein stichfester Beweis?
Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare eins nach dem anderen aufstellten, als er seine Hände an das Paket legte und es in die Luft hob. Er schüttelte es, lauschte aufmerksam. Nichts. Was auch immer da drin war; es musste fixiert sein, oder gut gepolstert. Und auf jeden Fall sehr leicht. Vielleicht Dokumente?
Er legte es vorsichtig auf die Tischplatte zurück. «Aber weshalb soll ich dich nicht öffnen?», fragte er nachdenklich, massierte mit Zeigefinger und Daumen seine Schläfe, liess das Paket aber keine Sekunde aus den Augen. «Gibt es jemand anderen, der das tun muss? Sollte ich dich zur Polizei bringen und damit womöglich in eine Falle laufen?»
Er fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht, legte die Handflächen vor Kinn und Nasenspitze aneinander. Was sollte er tun? Es öffnen? Es zur Polizei bringen? Nachforschungen anstellen?
«Aber die schnellste Methode wäre immer noch, es einfach zu öffnen …»
Es klingelte an der Tür.
Nicolas warf einen verstohlenen Blick aus dem Fenster, ehe er zur Eingangstür trat. Kurz zögerte er. Als er schliesslich öffnete – die Tür, und nicht das Paket – standen Jonas Schmid mit einem hilflosen, entschuldigenden Blick und Marie Lemaire mit verschränkten Armen vor ihm. Alles Weitere konnte er sich zusammenreimen: Jonas hatte seine Neugierde nicht zügeln können, und Marie wusste Bescheid. Und so, wie sie dastand, hatte sie dieselbe Vorahnung wie er.
«Tut mir leid, Nico.» Aus Jonas’ Lippen klang das so unfassbar natürlich, dass er beinahe selbst geglaubt hätte, ihn schon seit Kindertagen zu kennen, wüsste er es nicht besser. Nicolas und Marie zogen synchron die Brauen hoch. Anscheinend reichte dem Herrn Postboten eine zehnminütige Interaktion über Mittag, um jemanden nicht nur zu duzen, sondern gleich noch mit einem Spitznamen zu versehen. Unbehelligt fuhr Jonas fort: «Ich hab’ im Dorf ein bisschen rumgefragt und Marie …» Er lachte nervös, liess den unvollendeten Satz in der Luft hängen.
Marie Lemaire – ihres Zeichens Polizistin, gerade wohl auf Patrouille und mehr «ausser» als «im» Dienst – sah zwischen den beiden hin und her. Sie wirkte sichtlich unzufrieden.
«So sieht man sich wieder, Nico», meldete sich Besagte nun zu Wort. Es klang irgendwie beleidigt. Jonas hielt sich mit beiden Händen den Mund zu, Nicolas lächelte etwas unbeholfen und Marie bedeutete ihm mit einer Geste, sie hereinzulassen. Einen Durchsuchungsbefehl hatte sie mit Sicherheit nicht. Er trat trotzdem zur Seite. Sie steuerten das Wohnzimmer an. «Hat er gerade gelächelt?», hörte er Jonas seiner Begleitung zuflüstern. Marie ignorierte seine Frage, warf dem unfreiwilligen Gastgeber stattdessen einen langen Blick zu; nachdenklich, aber nicht feindselig.
«Jonas hat mir bereits alles erklärt.» Anstatt direkt auf das Paket zuzugehen, sahen sie sich erstmal um. Es war offensichtlich, dass Nicolas alle seine Möbel vom verstorbenen Vorbesitzer übernommen hatte – einem netten alten Herrn mit einer Vorliebe für Retro. Die meisten davon waren mit weissen Leinentüchern überdeckt. Im Wohnzimmer lagen nur Tisch und Sessel frei. Unter einem der Tücher glaubte Marie einen alten Schallplattenspieler zu erkennen, unter einem anderen das Regal mit den zugehörigen Platten, das sie früher einmal gesehen hatte. Persönliche Gegenstände gab es keine. Es wirkte beinahe so, als hätte Nicolas nie vorgehabt, sich hier dauerhaft niederzulassen.
«Ziehen Sie wieder zurück?», fragte Marie. «Nach Zürich?»
«Die Tochter des Vorbesitzers hat mir dieses Haus nur übergangsweise zur Verfügung gestellt. Sie kämpft noch um die Erbschaft.» Er zog das Leinentuch vom Sofa. Die aufgewirbelten Staubkörner tanzen in den Sonnenstrahlen, die streifenartig durch die Jalousien drangen.
«Sie könnten sich nach einem anderen Haus umsehen. Oder einem Zimmer.»
Nicolas lachte, setzte sich in seinen Sessel. «Niemand hier würde mir etwas vermieten.» Gerade wollte die junge Polizistin etwas einwerfen, da ergänze er hastig: «Ausserdem wartet noch mein Job auf mich. Ich habe meinen Arbeitsvertrag noch nicht gekündigt, das … ist nur eine Art unbezahlter Urlaub.»
«Wieso?», wollte sie nun wissen. «Und wieso hier? Das ist keine Urlaubsregion.»
Doch anstatt auf ihre Fragen einzugehen, schob er ihr das Paket vor die Nase. Er berichtete ihr von seinen Vermutungen. Während er sprach, konzentrierte er sich auf das Paket, zeigte auf die Schrift, deutete auf die Adresse, den Poststempel – und überspielte den Umstand, dass ihre Aufmerksamkeit immer wieder zurück zu ihm zurückfand. Vermutlich hatte sich ihr Verdacht gegen ihn jetzt nur noch weiter erhärtet. Als Jonas sich schliesslich dazusetzte und davon berichtete, niemanden gefunden zu haben, der mehr darüber wusste, verfielen sie in Schweigen.
Wie erwartet war es das Versanddatum, das Marie nachdenklich werden liess. Sie starrte lange auf das Paket, sagte aber nichts.
«Wer auch immer das verschickt hat, wusste, dass es mir in die Hände fallen würde», brach Nicolas schliesslich die Stille. «Das Paket ist für mich bestimmt, kein Zweifel.»
«Und es hängt mit Magnus’ Tod zusammen», ergänzte Marie.
Jonas verengte die Augen. «Das wissen wir nicht mit Sicherheit, oder?»
«Doch, tun wir.» Marie zeigte mit dem Finger auf die Empfängeradresse des Pakets. «Das wissen nicht viele, doch mein Vater und Magnus waren befreundet, noch bevor Magnus in dieses Dorf zog. Er leitete eine Arztpraxis in Zürich, und er war verheiratet. Der Name der Empfängerin, Manuela Schneider … sie hatte ihren Nachnamen beibehalten, doch so hiess seine-»
Jonas sprang auf: «Doch nicht etwa seine Frau?!»
Marie nickte. «Sie ist vor fünf Jahren ihrer Krankheit erlegen. Magnus war Witwer.»
Es war spät in der Nacht, und er konnte nicht schlafen. Aberhundert Gedanken schossen ihm durch den Kopf, überschlugen sich; angefangen bei der Warnung auf dem Paket, bei seinem Namen als Versender, bei der Empfängerin, die … verstorben war, seit fünf Jahren schon, und von der eigentlich kaum jemand den Namen kennen dürfte. Bis weit über den Abend hinaus hatten sie darüber diskutiert, verschiedene Theorien aufgestellt, und kamen dennoch zu keinem Schluss. Es war ein Rätsel. Und seine Nächte würden schlaflos bleiben, bis er es gelöst hatte.
Die Treppenstufen knarzten und ächzten unter seinen behäbigen Schritten, als er sie in der Dunkelheit hinabschritt. Durch die Fenster schien fahles Mondlicht hinein. Ganz unversehens führte er sich Herrn Brunners Tod vor Augen, schauderte, und legte eine Hand auf das Treppengeländer. Unten angekommen ertastete er den Lichtschalter.
Die Deckenlampe sprang an – ein schwerer, antiker Kronleuchter – und schwenkte im Zug der halboffenen Fenster hin und her. Die Glühbirnen flackerten, der Luftstrom blähte die Vorhänge, als würden bleiche, geisterhafte Hände sie auseinanderziehen. Der Wind rauschte und heulte, hallte in den halbleeren Zimmern nach.
Er fröstelte.
Hastig schloss er die Fenster, die er in seinem tranceähnlichen Zustand vergessen hatte. Dann wandte er sich dem Paket zu. Er setzte sich davor – und plötzlich standen seine Gedanken still. All seine Bedenken waren auf einen Schlag verschwunden. Es war, als hätte ihn das Paket ganz unversehens in seinen Bann gezogen, seinen Kopf von einem Wimpernschlag zum nächsten vollkommen leergefegt. Es musste ein Traum sein, und doch war sie zu real gewesen: Die metallene Klinke der Schlafzimmertür, deren Kälte von seinen Fingern in seinen Körper drang. Ihre ungeölten Scharniere, die kreischten, sobald er sie öffnete. Das alte Eichenholz der Setzstufen, das sich unter seinem Gewicht senkte. Das spärliche Licht des Kronleuchters, das in seinen graublauen Augen brannte. Das Gefühl von Karton unter den Fingerkuppen.
Das Geräusch, als er den Klebebandstreifen mit seinem Nagel eindrückte und riss.
Jede Faser in seinem Körper spannte sich an, als sich der Deckel hob. Es war zu echt. Zu lebhaft.
Und als er hineinsah, vergass er zu atmen.

Nicolas Fuchs
Ein talentierter Journalist, den es nach etlichen Überstunden und einem unglücklichen Skandal in dieses abgeschiedene Bergdorf verschlagen hat. Er ist 29 Jahre alt und kommt ursprünglich aus dem Kanton Aargau. In seinem Wesen ist er überaus empathisch – durch seine kühle und distanzierte Ausstrahlung jedoch oft dazu verdammt, missverstanden zu werden.
Marie Lemaire
Eine neugierige Polizistin, die lieber einmal mehr hinterfragt als einmal zu wenig. Sie ist 28 Jahre alt. Dank ihrem starken Gerechtigkeitssinn und ihrer loyalen Art geniesst sie höchstes Vertrauen im Dorf. Sie selbst wird allerdings schnell misstrauisch, und Aussenstehende dürften sich schwer darin tun, ihr Vertrauen zu gewinnen …


Jonas Schmid
Ein aufgeschlossener Postbote, der das Herz auf der Zunge trägt. Mit seinen 32 Jahren ist er der jüngste Angestellte der Filiale und geht seinen Pflichten emsig, womöglich sogar übereifrig nach. Als ausgewiesener Menschenfreund scheut er sich nicht davor, auf andere zuzugehen, und trägt dabei stets ein Lächeln auf den Lippen.
Quelle Titelbild und Charakterbilder: Sora AI
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Marketing Manager Editorial Content
Wenn ich mal nicht gerade damit beschäftigt bin, meiner literarisch-kreativen Ader freien Lauf zu lassen, stecke ich höchstwahrscheinlich in einem Netflix-Marathon fest («Nur noch eine Folge!»), unterhalte ich mich angeregt über die verschiedensten Themen, lese ein gutes Buch oder fordere mich selbst mit einem neuen Hobby heraus. Meine Wissbegierde kennt keine Grenzen, und hier habe ich die Möglichkeit, sie auszuleben und mit anderen zu teilen.
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