
Ein Weihnachtskrimi, Teil 4: Das Geständnis (Finale)
Das Paket, das alles ins Rollen brachte. Das Paket, dessen Geschichte sich nun dem Ende zuneigt.
Sie standen alle in einer Reihe und streckten Nicolas ihre Handflächen entgegen. Daniela Roth, Eveline Pfister, Jonas Schmid, gar Sebastian Keller – und Marie Lemaire, die ihm ihre Hände zwar nicht vorhielt, aber selbst fragend inspizierte. In ihren Gesichtern stand mehrheitlich Verwirrung, teilweise aber auch Ungeduld und Nervosität geschrieben. Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Einzig Nicolas’ Schritte und die leisen, gepressten Atemzüge der Anwesenden waren zu vernehmen.
Nicolas spürte die Spannung in der Luft, als er gemächlich von einer Person zur nächsten trat, wortlos ihre Handflächen betrachtete: Daniela Roths und Jonas Schmids schwielige Haut, an der sich schon seit Jahren keine Blasen mehr bildeten; Eveline Pfisters zarten Finger, dünn und unversehrt; Sebastian Kellers groben Pranken, deren linker Handballen ein Schmierfleck zierte, wohl dem Füller in seinem Büro geschuldet. Es gab nichts Auffälliges. Doch genau dieser Umstand fiel auf.
Wider Erwarten war es der Kommissar und nicht etwa Sebastian Keller, der als erster Aufschluss forderte. «Wonach suchen Sie?», fragte er, seine Stimme rau und kratzig, doch nach wie vor von ruhiger Natur. Er klang streng, geradezu autoritär, aber nicht hetzend. Als er weitersprach, fuhr er sich mit seiner Linken über sein halbkahles Haupt. «Sie haben von zwei Blumen geredet, die Ihnen auf Magnus Brunners Grab aufgefallen sind. Was hat es damit auf sich?»
Der Kommissar wartete geduldig auf eine Antwort.
Alle Augen waren auf Nicolas gerichtet, folgten ihm auf Schritt und Tritt. Er brach seine Inspektion nicht ab, als er zu einer Erklärung ausholte.
«Die violette Hyazinthe ist eine davon», klärte er vorsichtig auf, darauf bedacht, seine Gedankensprünge zu zähmen. «Sie steht für Reue und stellt eine Bitte zur Vergebung dar. Ich hatte mich schon gefragt, was es mit ihr auf sich hat. Sie war mir gleich aufgefallen. Aber seien wir mal ehrlich: Wer wäre schon so nachlässig, sich im Anschluss an einen Mord nach einer Blume mit einer solchen Bedeutung zu erkundigen und sie dann auf das Grab des Opfers zu legen? Nein, das Risiko wäre zu gross. Es wirft zu viele Fragen auf, und es hinterlässt Spuren.»
Eveline Pfister zog ihre Hände zurück, als Nicolas an ihr vorbeilief. Die anderen fanden es unverschämt von ihm, allem Anschein nach selbst die gutherzige Floristin im Rollstuhl zu verdächtigen, sagten aber nichts weiter dazu. «Das ist wahr», stimmte Eveline ihm zögerlich zu, «deswegen blieb es mir auch im Gedächtnis hängen. Ich hatte mich gefragt, wofür und bei wem sich Daniela entschuldigen will, und ihr die violette Hyazinthe empfohlen. Ich hätte aber nie gedacht …» Sie sah hinab auf ihren Schoss, spielte unsicher mit ihren Daumen. «Ich hätte nie gedacht, dass so eine Geschichte dahintersteckt.»
«Ich schätze», meldete sich nun Marie Lemaire zu Wort, «wir können den Kreis der Verdächtigen nun auf zwei Personen einschränken. Auch wenn ich es weder Daniela noch Sebastian zutrauen würde … sind sie die einzigen mit einem klaren Motiv. Aber wie Nicolas gesagt hat, würde Daniela nach so einer Tat doch kein Risiko auf sich nehmen und …»
«Nach einem Mord nach so einer Blume zu fragen, ist nachlässig, ohne Zweifel», ergänzte der Kommissar, «aber es schliesst Frau Roth nicht aus. Der Fall war als Unfall abgetan, und der Mord geschah im Affekt. Das sind genug Gründe, unvorsichtig und irrational zu handeln. Frau Roth und Herr Keller könnten es beide gewesen sein.»
«Das glaube ich nicht, aber es ist auch unwichtig.» Nicolas atmete tief durch, setzte sich wieder auf die Treppenstufen. Marie lehnte sich gegen die Balustrade.
«Ich war es jedenfalls nicht», stellte Sebastian Keller unmittelbar klar und verschränkte die Arme vor der Brust. Daniela Roth hingegen enthielt sich. Sie war kleinlaut geworden, wirkte sichtlich beschämt. Die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen schienen ihr schwer zugesetzt zu haben, allem voran ihre Beichte von vorhin.
Nicolas dachte nach. Dann beschloss er, endlich Licht in die Sache zu bringen.
«Die Geschichte hinter der Hyazinthe war zwar sehr aufschlussreich, hat mit dem Mord an Herrn Brunner aber nichts zu tun.»
Dieser Satz liess alle aufhorchen.
«Mir ging es hauptsächlich um die andere Blume.» Er pausierte, sah, wie der Kommissar beide Brauen hob. «Zwischen all den weissen Blüten lagen eine violette Hyazinthe … und eine rote Rose.»
Rote Rosen. Blumen, die für Liebe und Leidenschaft stehen; Blumen, die gern am Valentinstag verschenkt werden, von romantischer Zuneigung zeugend, von unsterblicher Liebe. Und auf Magnus Brunners Grab lag genau eine solche Rose, einsam und verlassen. Sie strahlte blutrot, inmitten von Weiss. Auf dem Grab einer Person, die verwitwet war. Einer Person, die keine Verwandten mehr hatte. Einer Person, die alleinstehend war, und für die es immer nur die Eine gegeben hatte.
«Jemand hat ihn geliebt.»
Es war nur ein Wispern. Und es war nicht die Floristin Eveline Pfister, die diese Erkenntnis kundtat – sondern Jonas Schmid. Der Postbote, der sonst immer so gesprächig war, hatte bis anhin kaum etwas gesagt, war mit jeder verstreichenden Sekunde blasser geworden.
Er wollte noch etwas ergänzen, haderte mit sich, schien unter den Blicken der anderen immer kleiner zu werden. Als er weitersprach, war seine Stimme gedämpft und kaum vernehmbar; wie eine sanfte Brise, die weder kühl noch warm war. Er sagte: «Ich habe gesehen, wer sie dahingelegt hat.» Und dann nochmal leiser: «Diese Person … als es vorhin um das Paket ging, ist mir eingefallen, dass sie sich bei mir danach erkundigt hatte. Nach einem Paket von Magnus Brunner. Es war am Morgen, bevor Magnus aufgefunden wurde. Ich hatte mir nichts dabei gedacht …» Er zögerte, atmete hörbar. «Weil diese Person … es einfach nicht gewesen sein kann.»
Alle hörten zu, wie gebannt, warteten auf einen Namen. Doch anstatt ihnen diesen zu nennen, sah Jonas auf, fixierte starr eine der Anwesenden, mit traurigen, bedauernden Augen – und wer seinem Blick folgte, stellte fest, dass er auf niemand Geringeren als Eveline Pfister gerichtet war.
«Das ist vollkommen absurd.» Sebastian Keller stemmte die Hände in die Hüfte. «Jetzt dreht ihr alle komplett am Rad. Das sind nur Zufälle. Oder will mir hier einer weismachen, sie könnte das bewerkstelligen? Das ist doch lächerlich. Was beweist schon eine einfache Blume?»
Eveline Pfister stand in Schock, erwiderte nichts. Der Kommissar bedeutete Nicolas, einzugreifen. Wahrscheinlich hatte er vermutet, dessen Schlussfolgerungen würden zu einer anderen Person führen – doch Nicolas konnte den Verdacht nur bestärken.
«Das kann ich Ihnen sagen.»
Mit diesen Worten zog er einen Plastikbeutel aus seinem Mantel. Hinter der transparenten Kunststoffschicht ruhte eine rote Rose, mittlerweile verwelkt. Allen war bewusst, um welche Rose es sich dabei handeln musste. Die Rose aus Magnus Brunners Grab. Nicolas hielt sie hoch, stellte sie zur Schau.
«Marie hatte mir davon berichtet», erklärte er schrittweise, «dass dünne, längliche Schnittwunden an der rechten Hand von Herrn Brunner festgestellt werden konnten. Sie sollen während seines Todes oder kurz davor entstanden sein. Allerdings gab es nichts in seiner Nähe, das solche Wunden hätte verursachen können.»
Als Marie zustimmend nickte, fuhr er fort.
«Ich hatte mich gefragt, was diese Wunden verantworten könnte.»
Er erinnerte sich daran, wie er Sebastian Kellers Drohungen gelauscht hatte, auf dem Rückweg vom Friedhof. Wie er Eveline Pfister durch das Schaufenster hindurch beobachtet hatte. Wie sie Blumen arrangierte, mit behandschuhten Händen.
«Dann kam mir eine Idee. Was …, wenn Herr Brunner bei seinem Sturz nach etwas gegriffen hätte?» Er wandte sich dem Kommissar zu. «Was, wenn er wider Erwarten etwas zu fassen bekommen hätte? Etwas …» Der Plastikbeutel raschelte in seiner Hand, als er mit dem Finger auf den Stiel der Rose wies. «Mit Dornen.»
Der Kommissar nahm ihm den Plastikbeutel ab, hielt ihn sich dicht vor die Augen, fokussierte die Dornen.
«Und was …», setzte Nicolas fort, «wenn ihm dieser Gegenstand entglitt, weil er von jemand anderem festgehalten wurde? Der Gegenstand – die Rose – rutschte ihm aus den Fingern und verursachte so die rätselhaften länglichen Schnittwunden.»
Der Kommissar grummelte etwas Unverständliches. Dann stellte er nachdenklich fest: «Tatsache. Da sind Blutspuren an den Dornen.»
«Und es wird sich herausstellen, dass sie Magnus Brunner angehören», bestätigte Nicolas.
«Was ist mit dem Täter?», fragte Marie, trat ebenfalls näher an die Plastiktüte heran. «Sind da auch Blutspuren vom Täter? Hast du deswegen alle Handflächen unter die Lupe genommen?»
Ehe Nicolas darauf antworten konnte, ging aber auch schon Sebastian Keller dazwischen. «Dann war es niemand von uns», argumentierte er. «Und wir haben uns umsonst hier versammelt. Oder haben Sie bei jemandem von uns etwa Schnittwunden gefunden, Herr Journalist?» Er spuckte das Wort geradezu aus, und während er das tat, zeichnete er Anführungszeichen in die Luft. «Wohl kaum. Also spielen Sie sich hier nicht als Detektiv auf, Sie Möchtegern.»
Nicolas seufzte. Einmal mehr lief Sebastian Kellers Kopf rot an, und irgendwie erinnerte er ihn an eine rote Weihnachtskugel. Auf eine verquere Weise beneidete er ihn um all diese unbändigen Emotionen, verspürte er seit geraumer Zeit doch kaum mehr als Leere. Er war müde. Und es war eine Müdigkeit, die Schlaf nicht ausgleichen konnte.
«Die Schnittwunden fehlen aus demselben Grund, aus dem oben auch keine Fingerabdrücke vom Täter zu finden sein werden. Aber wer weiss; vielleicht findet sich ein Haar oder ein Schuhabdruck. Bisher hatten wir schliesslich keinen Anlass, den Treppenabsatz untersuchen zu lassen.» Nicolas wandte sich wieder dem Kommissar zu, sah gar nicht mehr, wie Sebastian ihn wieder packen wollte, jedoch von Daniela dabei gehindert wurde. «Der Täter hatte die Rose für Magnus Brunner mitgebracht. Vielleicht hatte er sich etwas erhofft, bei einer Einladung zu so später Stunde.»
Eveline Pfister zeigte keinerlei Gefühlsregung. Sie hörte zu, unbeteiligt, so als würde sie die Unterhaltung nicht betreffen; weder Angst noch Sorge spiegelten sich in ihren Zügen, genauso wie ihr zeichnendes Mitgefühl vertrieben schien. Einzig und allein das hastige Heben und Senken ihrer Brust verriet sie, liess den Sturm in ihr erahnen. Von ihrem sanften Wesen war nichts mehr übriggeblieben. Ihre gefühlslose Ausstrahlung liess sie anders wirken. Fremd.
«Und schon rein aus Gewohnheit», führte Nicolas seine Erläuterung fort, «trug der Täter seine Handschuhe. Aber nicht irgendwelche Handschuhe, sondern Gartenhandschuhe. Jene, die Frau Pfister bei der Arbeit trägt, um sich vor Schnittwunden zu schützen. Denn Sie lassen den Blumen ihre Dornen, nicht wahr?»
Er ging bedächtig auf sie zu, lief einmal um ihren Rollstuhl herum.
«Auch die weissen Rosen am Grab haben noch welche. Herr Brunner erzählte mir einst, Sie würden die Dornen nicht entfernen, weil sie zum Reiz der Blume gehören. Und um ihre Hände vor Schnitten und wohl auch vor Reizstoffen zu schützen, tragen Sie Handschuhe.» Nicolas blieb stehen, sah ihr geradewegs in die Augen. «Oh ja, denn Sie sind es, die Magnus Brunner kaltblütig ermordet hat, Frau Pfister. Sie sind die Täterin.»
Für diesen einen Augenblick schienen alle das Sprechen verlernt zu haben. Niemand gab einen Laut von sich – und doch füllte sich der Raum mit endlos vielen unausgesprochenen Fragen, die aufeinanderstiessen, ineinandergriffen, die Luft spürbar verdichteten. Gefolgt von Zweifel. Verblüffung. Schock. Es war die lauteste Stille, die Nicolas je erlebt hatte. Und es waren die schwerwiegendsten Worte, die er je hatte aussprechen müssen.
Sebastian Keller war der erste, der seine Sprache wiederfand. «Ausgeschlossen …», flüsterte er.
«Aber wie soll das denn gehen, Nico?», fragte nun Jonas. «Wie sollte sie … das ist doch unmöglich.»
Eveline Pfister wirkte angespannt, schien sich jedoch binnen Sekunden zu beruhigen. Ihre Stimme war klar und stoisch, als sie Stellung nahm. «Aber, aber, Herr Journalist», begann sie tadelnd, «da haben Sie wohl eine Kleinigkeit vergessen. Ich kann gar nicht dort oben gewesen sein.» Sie breitete ihre Arme aus, legte die Hände auf die Räder ihres Rollstuhls. «Ich kann schliesslich nicht laufen.» Es war, als hätte sie noch etwas hinzufügen wollen. Die Art, wie Nicolas sie ansah, hielt sie jedoch davon ab. Sein Blick war eiskalt. Sie spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. Ein unangenehmes Kribbeln.
«Marie hat mir etwas Interessantes erzählt.»
Es wurde plötzlich kälter im Raum.
«Sie war bei Ihnen, um sich über die Hyazinthe zu erkundigen, Frau Pfister.»
Nicolas drehte sich um, ging mit starren Schritten auf die Treppenstufen zu, sah hoch.
«Sie meinte, sie wären der Meinung, Herr Brunner wäre über seinen Teppich gestolpert.»
Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf. Eine Stufe nach der anderen. Das Holz ächzte unter seinen Schritten, und doch fühlte er sich schwerelos. Plötzlich wurde Nicolas seiner Atmung auf unangenehme Weise bewusst, genau wie seines Herzschlags. So als müsste er aktiv atmen, um nicht zu ersticken, und als müsste er sein Herz willentlich am Schlagen halten, damit es nicht aufhörte, nicht plötzlich stillstand.
Eveline spottete: «Ja, was soll damit sein? Es ist eine vernünftig Erklä…»
Sie brach ab. Ihre Gesichtszüge versteinerten sich. Sie wurde todernst.
«Da oben ist ein Teppich?», fragte Jonas Schmid.
«Ich war noch nie da oben», wunderte sich Daniela Roth.
«Kein Wunder, der liess ja auch niemanden hoch», murrte Sebastian Keller. «Ausser vielleicht Marie.»
«Ich war auch nur drei- oder viermal dort», erklärte Marie.
Eveline Pfisters Hände ballten sich zu Fäusten.
«Von dem Teppich stand etwas im Bericht», entsann sich Beat Schneider, der Kommissar, und legte eine Hand auf das Treppengeländer. «Er sah unberührt aus, also wurde er als Todesursache ausgeschlossen.»
Nicolas nickte. Als er auf der vorletzten Stufe ankam, atmete er tief durch, drehte sich zu seinen Zuhörerinnen und Zuhörern – sah auf einmal erbarmungslos aus, nahezu unerbittlich, in der Art, wie er auf sie herabsah. «Wissen Sie …», begann er mit denselben Worten wie zuvor. «Ich war schon mehrfach hier, aber von einem Teppich wusste ich nichts. Schlichtweg, weil ich nie oben war.» Er nahm Eveline Pfister ins Visier. «Wie kommt es dann, dass gerade Sie davon wussten?»
Eveline Pfister schwieg.
«Es ist ein Teppich, der kaum auffällt.» Nicolas wandte sich besagtem Gegenstand zu. Der Stoff war dunkelrot, ging nahezu fliessend in das satte Braun der Holzdielen über. «Aber wenn Ihnen jemand davon erzählt haben sollte, können Sie uns sagen, wer es war.» Nicolas blinzelte einmal, und plötzlich sah er eine Blutlache vor sich. Er blinzelte nochmal, und die Blutlache war weg. Ruckartig schüttelte er den Kopf, griff sich mit einer Hand an die Stirn. Seine Albträume suchten ihn nun auch tagsüber heim.
Er griff mit der anderen Hand nach dem Teppich, hob ihn hoch. Der Fleck kam wieder zum Vorschein. Ein kleines Missgeschick mit Kaffee, wahrscheinlich. «Herr Brunner wollte wohl diesen Schönheitsmakel verstecken», vermutete er. «Nichts an diesem Teppich deutet darauf hin, dass er ausgerutscht, geschweige denn darüber gestolpert sein könnte. Sie wollten wohl Unwissenheit vortäuschen, haben damit aber letztlich meinen Verdacht bestätigt.»
Nicolas liess den Teppich in seine ursprüngliche Position zurückfallen, setzte sich darauf. Er legte eine Kunstpause ein. Dann beantwortete er die Frage, die allen bereits auf der Zunge lag.
«Denn Sie können laufen, Frau Pfister.»
Alle Blicke richteten sich auf sie. Der Kommissar wartete gespannt.
Das Paket. Der Einbruch. Die Handschuhe. Die Rose. Die Blutspuren auf den Dornen. Der Teppich.
Es war ein Schachmatt. Und Eveline Pfister erkannte es an.
«Hut ab, Herr Journalist.»
Damit tat sie schliesslich das, was sich niemand in diesem Raum auch nur in den kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Langsam – quälend langsam, als wolle sie die Spannung bewusst steigern – trat sie mit ihrem rechten Fuss auf den Holzboden und stiess sich von ihrem Rollstuhl ab. Sie stand auf. So mühelos, so natürlich, als wäre nichts dabei; als hätte sie es schon immer getan. Weil es auch so war. Weil sie es schon immer konnte und tat. Und allen wurde schlagartig bewusst: Sie hatte sie an der Nase herumgeführt. Sie hatte gelogen. Eveline Pfister hatte alles simuliert … und als würde das nicht genügen, hatte sie Magnus Brunner ermordet.
Sie stand vor ihnen, auf beiden Beinen, aufrecht und felsenfest. Als wäre es nie anders gewesen, und als hätte sie nichts verbrochen.
Es war ein Augenblick, in dem alle den Atem anhielten. Ein Moment, in dem alle zu Salzsäulen erstarrten. Der Schock sass knochentief, das Entsetzen war lähmend. Sie trauten ihren Augen kaum, und doch wussten sie, dass es real war.
«Aber wieso?», stotterte Daniela Roth. «Wieso … wieso hast du uns angelogen? Und Magnus … wieso hast du das Magnus angetan?»
Eveline liess die Schultern fallen und senkte den Kopf.
«Kannst du dir das nicht zusammenreimen?», mischte sich Sebastian Keller wieder ein. «Ihre ganze Stiftung fusst auf dieser Lüge. Welchen anderen Grund könnte es da geben?» Er sah hoch zu Nicolas Fuchs, der immer noch am Treppenabsatz sass und die Szene stumm beobachtete. Besagter schwieg, liess Eveline nicht aus den Augen. Sebastian spottete: «Richtet so einen Tumult an und führt es dann nicht zu Ende.»
«Wir werden die Stiftung auf Veruntreuung prüfen lassen», meldete sich nun der Kommissar zu Wort. «Frau Pfister. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung hervorzubringen?»
Sie lachte. Ihr Lachen klang hohl und verzweifelt, jagte allen Anwesenden einen Schauer über den Rücken. Ihre Fassade bröckelte. Schmerz zeichnete sich in ihren Zügen ab.
«Er hatte es darauf angelegt», antwortete sie dann. «Er hat mir nicht nur eine Abfuhr erteilt, sondern auch noch gedroht.» Und so begann sie, den Vorfall zu schildern. Jedes Wort schien ihr leichter über die Lippen zu gehen als das vorherige, so als würde mit jedem Satz ein weiterer Knoten gelöst, den sie zu lange festgezogen hatte. Ihre Anspannung wich nüchterner Klarheit.
Magnus Brunner sei durch Zufall auf ihr Geheimnis gestossen. In etwa so, wie er durch Zufall von der Affäre zwischen Sebastian Keller und Daniela Roth erfahren hatte. Die genaueren Umstände kenne sie nicht. Er habe sie an einem späten Sonntag zu sich ins Haus bestellt – und sie, Eveline Pfister, die ihm schon seit ihrer ersten Begegnung schöne Augen machte, habe die Einladung mit Freuden angenommen. Sie hatte sich zurechtgemacht. Hatte die schönste Rose für ihn herausgesucht. Doch als sie schliesslich bei ihm war, stellte sich heraus, dass Magnus Brunner sie aus einem ganz anderen Grund herbestellt hatte. «Noch kannst du es geradebiegen», habe er ihr versichert. «Das Geld, das du unterschlagen hast, … ich helfe dir, es zusammenzukratzen», habe er ihr versprochen. «Aber du musst ehrlich sein. Sag den anderen die Wahrheit.» Er sei nachdrücklich gewesen. Und als sie sich weigerte: «Ich habe bereits ein Paket mit Beweisdokumenten verschickt. Gestehe, Eveline, bitte.» Er habe ihre Hand genommen. «Gestehe, bevor das Paket ankommt.»
So war sie in Zugzwang geraten.
Sie habe zugestimmt. Aber es war eine Lüge gewesen.
Er sei hochgegangen, in der schwindenden Hoffnung, eine Vase für die Rose auftreiben zu können. Sie habe sich hinter der Tür beim Treppenabsatz versteckt. Als er zurückgekommen war und den leeren Rollstuhl unten sah, sei es bereits zu spät gewesen. Ehe er sich hätte wehren können, war Eveline Pfister hinter der Tür hervorgetreten und hatte ihn hinuntergestossen.
Sein Griff nach der Rose kam unerwartet, und beinahe hätte er sie mitgerissen.
«Er weiss nicht», führte sie ihr Geständnis zu Ende, «wie es ist, unter einem Berg von Schulden zu leben.» Sie atmete stockend ein und aus. «Er hat es verdient.»
Einige Sekunden der Stille verstrichen.
Dann fragte eine kühle Stimme: «Wieso weinen Sie dann?»
Nicolas Worte legten sich wie eine Eisdecke über sie, liessen sie erzittern. Sie wischte sich mit einer hastigen Bewegung die Tränen von den Wangen.
«Wieso haben Sie dann die Rose auf sein Grab gelegt?»
Doch es half nichts; die Tränen versiegten nicht.
«Wie konnten Sie nur …» Nun klang die Stimme nicht mehr kühl, sondern gebrochen. «Er war ein so unglaublich gutherziger Mensch. Er wollte Ihnen helfen … wie konnten Sie nur? Wie konnten Sie ihm nur so etwas antun?» Nicolas versuchte das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken, doch es wollte ihm nicht gelingen. «Obwohl er bereits … befürchtet hatte, dass Sie ihm etwas antun könnten … wollte er an Sie glauben. Wie konnten Sie …» Nicolas schluckte. Er spürte die Blicke der anderen auf sich ruhen, vergrub sein Gesicht in seinen Händen, gab sich grosse Mühe, es so aussehen zu lassen, als würde er das nur aus Müdigkeit tun.
Eveline Pfister begann von einer Sekunde zur nächsten laut zu Schluchzen, fiel auf die Knie. Der Damm war gebrochen. Sie weinte bitterlich. Indem sie ihre Reue nun hemmungslos zum Ausdruck brachte, übertönte sie seinen schweren Atem, lenkte von seinen bebenden Schultern ab. Eine Blösse, die er sich sonst nicht gab.
Er hörte Marie die Treppen hocheilen. Wieder einmal waren es ihre Stiefel gewesen, die sie verrieten. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er gab sein Gesicht wieder frei, hatte den Kampf gegen die Tränen knapp gewonnen. Während er zu Eveline Pfister hinuntersah, die schrie und weinte, schossen ihm Magnus Brunners wohlwollenden letzten Worte durch den Kopf.
«Ich würde gerne mehr von Ihnen lesen, Herr Fuchs. Ich bin der festen Überzeugung, Sie sind ein herausragender Journalist.»
Doch er würde nichts mehr von ihm lesen können. Nicht, weil Nicolas die Feder abgelegt hätte … sondern weil er fort war.
«Jetzt komm schon!»
Marie bugsierte ihn aus seiner Bleibe. Er trat mit ihr hinaus in die winterliche Kälte, seufzte in die Nacht hinein, die schon vor Stunden angebrochen war – dabei hatte er vom Tag nichts gehabt. Genauso wenig wie von den letzten zwei Wochen, seit der Auflösung des Falls und der Verhaftung von Eveline Pfister. Er hatte jedem Verhör zugestimmt, unzählige Fragen beantwortet, Beweisstücke zur Verfügung gestellt, ja, sogar Marie bei ihren Befragungen geholfen. Und doch fühlte er sich leer. Ihm war, als würde das Dorf an ihm vorbeileben, und als würde die Zeit an ihm vorbeiziehen. Sein Herz schlug, doch er fühlte sich nicht lebendig. Er war müde. Antriebslos. Kein Wunder, dass er das Haus nicht mehr verlassen hatte, seither.
War es das, was man «trauern» nannte? Und war das seine Art, es zuzulassen?
Mit einem leisen Klicken schloss er die Eingangstür ab und warf einen flüchtigen Blick auf das kaputte Fensterglas daneben. Die Scheibe war noch nicht ausgetauscht, und das Loch mit altem Karton und Kreppband abgedeckt.
Es war wirklich viel passiert.
«Nicolas», klagte Marie und zerrte an seinem Mantel, «es ist Heiligabend, also beeil dich mal ein bisschen.»
Sein Schlüsselbund klirrte, als er ihn in seine Manteltasche fallen liess.
«Müssen wir wirklich dahin?», zweifelte er. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich dabeihaben wollen.»
«Sie haben alle darauf bestanden, dass ich dich mitbringe.»
Nicolas glaubte ihr nicht, wusste aber, dass eine Diskussion zwecklos sein würde. Sie liefen den dunklen Pflasterweg entlang, und ihre Schritte knirschten im zentimeterdicken Schnee. Nicolas lief voran. Marie trat in seine Fusstapfen, summte leise eins der Weihnachtslieder, die schon seit November im Radio liefen. Feine Schneeflocken rieselten vom schwarzen Nachthimmel, glitzerten im Licht der Strassenlaternen und tanzten im Wind. Eine dichte Schneedecke bedeckte das Dorf – und es war, als wolle sie all das Leid unter sich begraben.
«Wir sind da.»
Marie begann, ihn von hinten gen Wirtshaus zu schubsen. Schon von aussen war das Treiben deutlich zu hören; die lebhaften Gespräche und das ausgelassene Glucksen. Sie lachten sorgenfrei. Sangen.
Goldenes, warmes Licht schien aus den Fenstern hinaus, wurde vom Schnee reflektiert. Er dachte an die Dunkelheit und Abwesenheit, die die Fenster seiner Bleibe verströmten; an den Karton, der an die wenigen verbleibenden Scherben geklebt war und die Kälte am Eindringen hindern sollte, ohne Erfolg. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass in lichterfüllten Häusern warme Seelen lebten. War das nicht schon Grund genug, umzukehren? Er passte hier schliesslich nicht rein; die Fenster seiner Bleibe waren wie Fenster in sein Inneres, und dieses war … leergefegt.
«Ich hab’s mir anders überlegt.»
Er wollte umdrehen.
«Zu spät.»
Marie stiess die Tür zum Wirtshaus auf, schwunghaft, sodass die Glocke über ihr herzhaft läutete. Dann packte sie ihn an seinem Arm und zog ihn hinein. Binnen Sekunden verstummte das fröhliche Stimmengewirr und Nicolas trat unbewusst einen Schritt zurück. Nur, um von Marie weiter reingezerrt zu werden.
«Hier ist eure Bestellung», verkündete sie stolz und lachte herzlich, sodass ihre weissen Zahnreihen zum Vorschein traten. «Nehmt die Lieferung vorsichtig entgegen, sie ist zerbrechlich.»
Augenblicklich liefen seine Ohren rot an. Etwas, das man ihm nicht zugetraut hätte – doch mittlerweile hatte sich bereits herumgesprochen, dass Nicolas Fuchs, der Fremde, weder so kalt noch so fremd war, wie er tat. Er wurde verlegen und riss hastig seinen Schal hoch. Mit einem Schlag wurde ihm klar: Er hätte sich nicht hierzu überreden lassen sollen. Jetzt war wegen ihm die Stimmung gekippt.
Doch ganz unversehens …
«Wieso hast du denn so lange auf dich warten lassen, Junge?», fragte Sebastian Keller, der ihm gegenüber sonst immer feindselig eingestellt war.
«Genau, Nico, du hast uns ganz schön auf die Folter gespannt», ertönte nun auch Jonas’ Stimme. «Ich hatte schon befürchtet, du kommst nicht.»
«Daniela!», rief ein anderer Dorfbewohner aus, den er bisher nur vom Sehen kannte. «Einen halben Liter für den Jungen hier!»
Gelächter, überall. An mehreren Tischen zogen sie ihm Stühle heran, versuchten ihn für sich zu gewinnen, ihm den jeweiligen Platz schmackhaft zu machen, wie Händler auf einem Bazar. Sie kamen auf ihn zu, drängten ihn in das Zentrum. Daniela Roth stellte ein Glas vor ihm ab, lächelte ihm ermutigend zu. «Schön, dass du da bist.» Und dann begannen sie ihn mit allerlei Fragen zu durchlöchern. Über ihn, über seine Vorlieben, sein Leben. Es waren so viele, dass er kaum folgen konnte.
Marie setzte sich direkt neben ihn, amüsierte sich prächtig über seine Unbeholfenheit.
Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch, beugte sich leicht zu ihm herüber. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr: «Ich hätte da auch eine Frage, wenn es dir nichts ausmacht.»
Er lachte. Es war sein erstes aufrichtiges Lachen seit Magnus Brunners Tod. «Lass mich raten», forderte er sie heraus, «du willst wissen, wieso ich ausgerechnet in dieses Dorf gekommen bin.»
«Daneben.» Sie grinste zufrieden. «Ich will wissen, ob du bei uns bleibst.»
Quelle Titelbild: Sora AI
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Wenn ich mal nicht gerade damit beschäftigt bin, meiner literarisch-kreativen Ader freien Lauf zu lassen, stecke ich höchstwahrscheinlich in einem Netflix-Marathon fest («Nur noch eine Folge!»), unterhalte ich mich angeregt über die verschiedensten Themen, lese ein gutes Buch oder fordere mich selbst mit einem neuen Hobby heraus. Meine Wissbegierde kennt keine Grenzen, und hier habe ich die Möglichkeit, sie auszuleben und mit anderen zu teilen.
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