
Ein Weihnachtskrimi, Teil 3: Der Beweis
«Öffne mich nicht», warnt das Paket. Tust du es doch, bist du in Gefahr. Tust du es doch, bist du der Nächste.
Jemand war eingebrochen.
Die schneidende Kälte des Asphalts bohrte sich in seine Knie. Kräftige Finger schlangen sich um seine Schultern, halfen ihm auf. Er riss sich los. Es war Daniela Roth, die Gastwirtin. Sie habe das Fenster bemerkt, als sie gerade neue Glimmstängel aus dem Dorfladen holen wollte, und daraufhin Marie alarmiert. Das zumindest behauptete sie – und das war auch das Einzige, was zwischen all ihren Worten bis zu ihm durchdrang.
«Nicolas!», rief Marie ein weiteres Mal aus und eilte zu ihm. «Du warst nicht zuhause? Gottseidank …»
Ohne darauf einzugehen, trat er langsam zur Eingangstür. Maries Kollege machte ihm Platz. Ein Seitenblick zum zerbrochenen Fenster. Ein Seitenblick zu Marie, die sich ihm angeschlossen hatte, einen halben Schritt hinter ihm herlief. Er zog den Schlüssel aus seiner Manteltasche und schloss die Tür mit steifgefrorenen, zittrigen Fingern auf – hatte mehrere Anläufe gebraucht, um das Schlüsselloch zu treffen. Ein leises Klicken, dann gab die Tür nach, und ein Schwall abgestandener, kalter Luft strömte ihnen entgegen. Sein Atem ging flach. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt.
Nicolas trat hinein, betätigte den Lichtschalter und gab so den Blick auf ein nie dagewesenes Chaos frei.
Die weissen Leinentücher wurden von den Möbeln abgezogen, lagen wild verteilt auf dem dunklen Parkettboden. Manche noch halb an einem Möbelstück hängend, wie es bei der grossen Standuhr der Fall war, andere wiederum zerknittert daneben, umgeben von allerlei Gegenständen, die dabei mitgerissen wurden.
Die Luft war staubbesetzt. Dick. Dicht. Wie Nebel.
Instinktiv galt seine Aufmerksamkeit als erstes den Treppenstufen. Obwohl er wusste, dass es keinen Sinn ergab. Obwohl er wusste, dass niemandem etwas zugestossen sein konnte; dass das Haus leer stand, ohne ihn.
Als Nächstes nahm er das Wohnzimmer ins Visier. Flink trat er auf die Lücken zwischen den Gegenständen, zögerte kurz, als unter seiner Schuhsohle eine Vasenscherbe zerbrach, und lief dann achtlos auf den zerwühlten Leinentüchern, die seinen Weg zierten. Es war der Raum, der mit Abstand am schlimmsten zugerichtet worden war. Vor seinen Füssen erstreckte sich ein Durcheinander aus Schallplatten, manche ganz, manche gespalten; Büchern, aufgeschlagen, sich im Wind fächernd, der vom Fenster hineinwehte; drei Vasen, in Stücke zerbarst; eine Tischuhr; ein Grammphon, getrennt von seinem Horn; Dokumente; unzählige Schriften, die wie lose Marmorsteine den Boden pflasterten. Alle Schubladen standen weit herausgezogen, und der kühle Nachtwind liess eine offene Schranktür knarzend und kreischend hin- und herschwingen.
Mittendrin: Das Paket. Nicht mehr auf dem Wohnzimmertisch, sondern auf dem Boden.
«Jetzt verstehe ich es …»
Erst verging die Zeit wie in Zeitlupe. Dann wie im Zeitraffer.
Nicolas beantwortete der Polizei ihre Fragen, zeigte sich ansonsten aber wortkarg. Gemeinsam mit Marie versuchte er herauszufinden, ob irgendetwas mitgenommen wurde, doch alles schien noch da zu sein, wenn auch nicht unbedingt an Ort und Stelle. Nichts fehlte. Alle Wertgegenstände wurden zurückgelassen, präsentierten sich in den offenen Schubladen und Schränken wie auf einem Silbertablett, hatten dem Eindringling jedoch offenkundig nicht im Sinn gelegen.
Das hatte er bereits geahnt. Nein – er hatte es gewusst.
Als er sich daran machte, das Haus zu verlassen, hielt ihn jemand am Arm zurück. Sanft. Er hätte weitergehen können, doch er hielt inne und wandte sich ihr zu; Marie Lemaire, die ihn forschend ansah, unsicher auf ihrer Unterlippe kaute. «Wo gehst du hin?», fragte sie. «Es ist stockdunkel und bei dir wurde eingebrochen. Es ist gefährlich, jetzt noch draussen herumzulaufen.»
Er antwortete nicht direkt, wägte ab. «Dann … komm bitte mit.» Behutsam löste er ihre Hand von seinem Mantel, umschloss ihr Handgelenk und zog sie mit.
«Was tun wir hier?»
Marie versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen, die sich ihr beim Anblick der Szene aufdrängten. Sie waren in Magnus Brunners Zuhause. Es war das Haus neben Nicolas' Bleibe, und so waren immer noch das Raunen der Menge sowie die Zurufe der Spurensicherung zu hören, die eben erst aus der Stadt eingetroffen war. Der Einbruch wurde nicht auf die leichte Schulter genommen. Und irgendetwas sagte ihr, dass das mit dem Ereignis von vor über einer Woche zusammenhing – dass die beiden Fälle instinktiv miteinander verbunden wurden, obschon der vorangehende immer noch als Unfall galt, offiziell.
«Etwas überprüfen.»
Nicolas schien ungerührt von der Tatsache, dass sie sich gerade an einem Tatort befanden. Oder zumindest machte er den Anschein. Er sah sich geduldig um. Das Haus sah haargenau so aus, wie er es in Erinnerung hatte; zwei abgenutzte, gemütliche Sessel, ein tiefliegender Kaffeetisch, ein geradezu monumentales Bücherregal, voll von dicken Wälzern, manche von ihnen horizontal über andere gelegt, fehlte es doch an Platz. Die Einrichtung hatte viktorianischen Charme. Er inspizierte die halbleere Kaffeetasse auf dem Tisch, kniete sich zur Holzplatte. Es gab keine Hinweise darauf, dass hier eine zweite Tasse gestanden hatte.
«Sieht nicht so aus, als hätte er Besuch gehabt», warf Marie ein.
«Aber er scheint einen erwartet zu haben.»
Marie stutzte. «Woran machst du das fest?»
Nicolas stand wieder auf, deutete zur Küche. «Der Wasserkocher», erklärte er. «Herr Brunner lebt allein, aber den Wasserkocher hat er bis über die Hälfte aufgefüllt. Wie viel Wasser gibst du da rein, wenn du dir eine Tasse Kaffee oder Tee machen willst?»
Sie überlegte. «Bis gerade so über die Mindestmarkierung.» Sie legte eine Hand an ihr Kinn, fuhr mit dem Zeigefinger darüber, so als würde sie es massieren. «Und wenn ich mehr trinken will, gebe ich es in die Thermoskanne. In meinem Wasserkocher bleibt es leider nicht warm.»
«In diesem auch nicht.»
«Er hat also Besuch erwartet, der nicht gekommen ist», schlussfolgerte sie. «Oder eher … nichts trinken wollte?»
«Der Besuch hat jedenfalls nicht abgesagt. Wer sich so spät noch Kaffee macht, versucht, die Müdigkeit zu vertreiben. Und er war weder ein grosser Kaffeetrinker noch eine Nachteule.»
«Jetzt, wo du es sagst», fiel ihr plötzlich ein. «Als er aufgefunden wurde, trug er noch seine Strassenkleidung. Der Todeszeitpunkt lag zwischen neun und elf Uhr nachts. Um die Uhrzeit hat man normalerweise etwas Gemütlicheres an, es sei denn, man hat noch etwas vor …»
Nicolas schenkte ihr ein schwaches, trauriges Lächeln, drehte sich dann zu der Treppe. Marie verfolgte mit, wie er sie ansteuerte, den Kopf senkte, suchend auf den Holzboden vor ihm starrte. Sein Augenmerk galt erst dem Parkett, dann der Balustrade, dann den Stufen. Er begann, sie zu erklimmen, langsam und vorsichtig. Sein Blick blieb dabei an den Stufen haften.
«Du wirkst immer so unbeteiligt», sagte sie dann. «Aber du weisst viel über die Leute hier. Du stösst Menschen von dir, aber sie sind dir nicht egal.»
Er konzentrierte sich weiterhin auf die Stufen. «Es gibt im Moment Dinge, die deine Beobachtungsgabe nötiger haben als ich.»
Marie fixierte seinen Rücken, verschränkte die Arme vor der Brust. «Hand aufs Herz; wieso bist du hier?», fragte sie geradeheraus. Es war bereits das zweite Mal, dass sie ihm diese Frage stellte. «Was hat dich ausgerechnet in dieses unscheinbare, abgelegene Bergdorf verschlagen? Es ist nicht gerade um die Ecke.» Während es sich das erste Mal wie ein Verhör angehört hatte, klang es diesmal nach aufrichtigem Interesse. Wenn auch drängend.
Nicolas schwieg.
Sie seufzte.
Er setzte einen Fuss vor den anderen, stieg die Treppe Stufe für Stufe hoch. Das Holz wirkte alt, und bis auf die Maserung und ein paar Einkerbungen konnte er nichts darauf erkennen. Er ging weiter, spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief, wie er instinktiv nach dem Geländer greifen wollte – denn er war dort, wo Herr Brunner verunglückt, nein, ermordet worden war; im selben Raum, zur etwa selben Zeit. Sein inneres Auge begann Bilder zu spinnen, von denen er sich alsbald losriss. Vehement schüttelte er den Kopf. Kurz darauf rückte ein roter Teppich in sein Sichtfeld. Direkt am Ende der Treppen, auf dem Treppenabsatz fussend. Es war ein handgewebter Orientteppich, mittlerweile in die Jahre gekommen, und etwa dreimal so gross wie ein Fussabtreter. Er lag flach auf den Holzdielen. Nicolas war Herrn Brunner nie ins erste Stockwerk gefolgt, wurde nie hochgebeten; es war das erste Mal, dass er diesen Teppich sah.
Wie konnte es dann aber sein, dass …
«Wusstest du, dass hier ein Teppich ist? Bevor Herr Brunner …» Er wagte es nicht, den Satz zu beenden.
Marie schien verwirrt. «Ich hatte ihn mal gesehen, als ich für Magnus etwas geholt hatte. Er liegt da aber noch nicht lange, glaube ich. Wieso fragst du?»
«Ist das nicht eine ungewöhnliche Stelle, für einen Teppich? Nicht nur ungewöhnlich, sondern auch gefährlich.»
«Gehst du jetzt doch davon aus, dass er einfach über den Teppich gestolpert ist?»
«Nein.» Er hob den Teppich leicht an, senkte ihn wieder. «Das hätte man dem Teppich angesehen.»
«Ja, das hätte man», bestätigte sie.
Als nächstes betrachtete er die Tür dahinter. Er trat über den Teppich hinweg, griff nach dem Türknauf, drehte ihn. Sie war nicht verschlossen.
«Sag mal, Marie», setzte Nicolas dann an. «Könntest du etwas für mich tun? Könntest du ein paar bestimmte Personen darum bitten, sich hier zu versammeln – und dann gemeinsam mit einem Kollegen etwas zu holen? Das Paket bei mir … und noch etwas.»
Mittlerweile hatten sich alle im Haus von Magnus Brunner eingefunden. Sebastian Keller, der Gemeindepräsident, der Nicolas vom Sessel aus vernichtende Blicke zuwarf; Daniela Roth, die Besitzerin des Wirtshauses, die nervös auf und ab ging; Eveline Pfister, die Floristin, die nach Danielas Hand griff, sie zu beruhigen versuchte; Jonas Schmid, der Postbote, der dastand wie bestellt und nicht abgeholt, sich wieder einmal unbeholfen an den Nacken fasste. Als dann schliesslich Marie mit drei Kollegen und dem Kommissar im Schlepptau über die Türschwelle trat, waren alle beisammen. Alle, die Magnus Brunner zu seinem inneren Kreis zählen durfte. Und alle, die Teil dieser unglücklichen Geschichte waren, irgendwie in sie verwoben wurden – oder sie selbst gewoben hatten.
Nicolas Fuchs sass am Fusse der Treppe. Es war ein makaberer Platz, liess jedoch direkt auf den Sachverhalt schliessen. Marie Lemaire trat neben ihn und legte eine Hand auf die hölzerne Balustrade. Sie wirkte etwas angespannt, mehr aber nicht. Wenn sie aufgeregt oder aufgewühlt war, dann liess sie es sich nicht anmerken.
«Was wollen Sie von uns?», verlangte Sebastian Keller zu wissen, zum fünften Mal in dieser Nacht. «Sind Sie sich darüber im Klaren, wie spät es ist? Hätte das nicht auf morgen warten können?» Es schien, als würde er gleich zu einem weiteren Schwall an Klage ausholen – sein Ton war bissig, und er selbst wutentbrannt. Gerade als er von seinem Sessel aufspringen und drohend auf Nicolas zustampfen wollte, legte sich eine starke Hand auf seine Schulter und hielt ihn davon ab. Daniela Roth begann damit, auf ihn einzureden.
«Beruhige dich doch. Es muss etwas sein, das nicht warten kann.» Es klang beschwichtigend, aber auch kompromisslos. Sie machte einen resoluten Eindruck, so als wolle sie das Geschehen um jedes Preis vorantreiben.
«Wieso sollte es nicht warten können?», erwiderte der Gemeindepräsident schnippisch.
Er rechnete nicht mit einer Antwort, bekam sie aber trotzdem.
«Weil ihr morgen nicht vor mir, sondern vor meinem Grab stehen würdet.»
Nicolas’ kühle Stimme legte sich wie ein Eiszug über den Raum. Das Gemurmel verstummte; selbst Sebastian Keller verschlug es die Sprache. Die Worte hingen in der Luft, schwer und endgültig, als könne man sie greifen, wie die tanzenden Staubkörner im schwachen Licht der Deckenlampe. Marie stockte der Atem. Sie liess ihre Fassade fallen – blankes Entsetzen stand in ihren Zügen geschrieben.
Sebastian Keller blinzelte, sein Gesicht verlor jegliche Farbe.
«Wie bitte?», brachte er heiser hervor.
Nicolas hob langsam den Kopf. Er stiess sich von den Treppenstufen ab, schob seine Hände in die Taschen seines schwarzen Mantels und begegnete ihnen mit einer geradezu absurden Gleichmut. In einem erstaunlich ruhigen und gleichgültigen Ton, so als würde er lediglich über das Wetter oder über sein Frühstück sprechen, wiederholte er: «Wenn wir der Sache jetzt nicht nachgehen, dann wird es morgen ein weiteres Grab geben. Meines.»
Ein erschrockener Laut ging durch die Gruppe. Die Luft war zum Zerreissen angespannt. Jonas trat unwillkürlich einen Schritt zurück, stiess beinahe mit einer kleinen Kommode zusammen und murmelte eine Entschuldigung, die niemand beachtete. Eveline hielt sich eine Hand vor den Mund, atmete bebend ein und aus.
Einzig und allein der Kommissar schien gefasst. Er fuhr sich mit einer Hand über seinen langen, graumelierten Bart, verfolgte das Geschehen wachsam mit. «Da bin ich mal gespannt, was Sie zu sagen haben, Herr Fuchs», liess er schliesslich verlauten. «Ich rate Ihnen, meine Zeit nicht zu vergeuden.»
Das liess sich Nicolas nicht zweimal sagen.
Mit einer ruckartigen, flinken Bewegung griff er nach dem Paket auf dem Boden. Er hielt es der Menge vor, demonstrierte die Seite, auf der mit dunkelrotem Filzstift «Öffne mich nicht» geschrieben stand. «Ich beginne mit diesem Paket», kündigte er schliesslich an.
«Dieses Paket wurde am Todestag von Herrn Brunner in Auftrag gegeben und anonym in die Paketbox geworfen. Es trägt meinen Namen als Absender, obwohl ich das Paket weder aufbereitet noch versendet habe. Der Name der Empfängerin, Manuela Schneider … gehört einer Verstorbenen an. Magnus Brunners Frau.»
Es liess die Informationen einsacken. Vereinzeltes Tuscheln begann.
«Der wahre Absender dieses Pakets hatte von Anfang an beabsichtigt, dass es mir in die Hände fällt. Wie sollte es eine Verstorbene auch in Empfang nehmen? Das wäre unmöglich. Ihm war bewusst, dass es letztlich bei mir landen würde. Und mit dem Namen seiner Frau wollte er mir sagen: Es hat mit mir zu tun. Es hat mit meinem Tod zu tun. Ich bin jetzt bei meiner Frau.» Nicolas schenkte Marie ein schmales Lächeln. «Und er hatte gewusst, dass Marie auf das Paket aufmerksam werden und mich über seine Frau aufklären würde.»
Daniela ging ein Licht auf. «Das heisst ja dann …»
«Genau», bestätigte Nicolas. Er wandte sich dem Kommissar zu. «Magnus Brunner hat dieses Paket verschickt. Ich bin mir sicher, wenn Sie die Daten bei der Post überprüfen, werden Sie feststellen, dass das Paket noch vor seinem geschätzten Todeszeitpunkt online frankiert wurde. Die Post wird Ihnen sagen können, mit welchem Konto die Frankierung erstellt und abgerechnet wurde. Wenn Sie seine Geräte untersuchen, werden Sie das entsprechende Dokument im Druckverlauf finden. Es ist nicht schwierig nachzuweisen – Sie hatten bisher nur keinen Grund dazu.»
Der Kommissar nickte einem der Polizisten zu. Dieser verstand sofort, eilte aus dem Zimmer, um dem Gesagten nachzugehen. Dann trat der Kommissar näher, blieb zwei Schritte vor Nicolas stehen. «Sie glauben also, es war Mord. War in dem Paket etwas drin, womit Sie das beweisen können?»
Nicolas lachte leise. Ein hilfloses Lachen, das keinen Witz in sich trug. «Das Paket war leer», gestand er dann. «Jonas und Marie werden Ihnen bestätigen können, dass es ausgesprochen leicht war.» Der Kommissar sah von einem zur anderen, und beide bejahten es. «Und das liegt daran, dass das Paket nicht nur für mich gedacht war. Für mich war es ein Hinweis. Für eine andere Person ein Köder. Und ich sollte das Paket nicht öffnen … weil dann nicht mehr das Paket, sondern ich selbst zum Ziel werden würde.»
Nicolas drehte das Paket um, las laut vor: «Öffne mich nicht.» Dann blickte er in die Runde. «Denn sobald du mich öffnest, wirst du der Nächste sein.»
«Aber weshalb?», fragte Daniela Roth, gestikulierte aufgebracht. «Weshalb macht Sie das zum nächsten Ziel? Weshalb sollte der Täter es auf Sie absehen, wenn das Paket doch leer ist?»
«Weil er es nicht weiss», klärte Nicolas auf. «Er weiss nicht, dass das Paket von Anfang an leer war. Deswegen ist er auch bei mir eingebrochen. Und sobald er das leere, aber offene Paket sah …»
«… ging er davon aus, dass Sie den Inhalt entnommen haben», ergänzte der Kommissar. «Das Paket war ein Bluff des Opfers. Magnus Brunner liess den Täter im Glauben, das Paket würde eine Art Beweis beinhalten. Etwas, von dem der Täter unbedingt verhindern will, dass es ans Tageslicht kommt.»
«Als er es leer vorfand», führte Nicolas die Schlussfolgerung fort, «durchsuchte er das gesamte Haus. Er wurde nicht fündig – wie denn auch? Da war nichts drin. Und jetzt geht er davon aus, dass ich im Besitz dieses Beweisstücks bin.»
«Doch einen Beweis wofür?», stellte der Kommissar in den Raum. «Was wusste Magnus Brunner, dass es ihn das Leben kosten musste?»
«Es muss etwas sein, das den Täter stark belastet hätte. Genug, um Magnus Brunner im Affekt die Treppe hinunterzustossen. Doch dazu kommen wir später.» Er senkte den Blick, betrachtete das Paket. «Wenn wir von dieser Schlussfolgerung ausgehen, hat Herr Brunner den Täter zur Rede gestellt. Vielleicht wollte er ihn dazu bewegen, zu gestehen, und nutzte das Paket als Druckmittel. Es kommt ohnehin heraus. Melde es von dir aus, ehe es so weit ist. Womöglich hatte er gar keine Beweise, sondern nur eine Vorahnung. Er wollte ein Geständnis. Oder vielleicht auch … einfach nur helfen.»
Nicolas legte das Paket auf eine der Treppenstufen, setzte sich selbst daneben. «Magnus Brunner wurde kaltblütig ermordet», fasste er zusammen. Er stützte seine Ellenbogen auf seinen Knien ab, führte seine Hände zusammen, hakte seine Finger ineinander ein. «Und zwar von jemandem, der sich gerade unter uns befindet. Hier in diesem Raum.» Als er das aussprach, prägte er sich die verschiedenen Reaktionen ein, blickte von Person zu Person – und Marie entging dabei nicht, dass er eine davon auffallend länger ansah.
«Das ist ja wohl die Höhe!», stiess Sebastian Keller energisch hervor und sprang von seinem Sessel auf. Es geschah so plötzlich, dass sogar Daniela Roth zurückschreckte – die Gastwirtin, die sonst immer Nerven aus Stahl an den Tag legte, gar die lautesten Stammgäste binnen Sekunden zum Verstummen bringen konnte. «Das Paket beweist gar nichts! Es war nur ein Unfall, nichts weiter! Und der Einbruch war ein einfacher Diebstahl, verstehen Sie denn nicht? Hören Sie damit auf, Gespenster zu jagen und uns gegeneinander auszuspielen!»
Er wollte auf Nicolas losgehen, wurde aber von zwei Polizisten abgehalten. «Besser noch: Verschwinden Sie einfach! Packen Sie Ihre Sachen und verlassen Sie unser Dorf!»
Marie wich einen Schritt zurück, als der Gemeindepräsident sich von den eisernen Griffen ihrer Kollegen zu befreien drohte. Nicolas aber wirkte unbeeindruckt, bot ihm die Stirn, indem er ungerührt weitersprach. «Wissen Sie», begann er. «Auf dem Grab von Herrn Brunner liegt eine interessante Blume. Zwischen all den weissen Rosen und Lilien gibt es eine – nein, zwei – die mir ins Auge gefallen sind.»
«Die Hyazinthe …», flüsterte Eveline wie auf Kommando, ihre Stimme so sanft und unschuldig wie eh und je. «Daniela hatte mich gefragt, mit welcher Blume sie sich entschuldigen könnte.»
Sebastian Kellers laute Stimme erstickte augenblicklich im Keim. Alle Köpfe drehten sich zu Daniela Roth, die mit offenem Mund dastand, stillschwieg, schluckte, als hätte sich ihr Hals verknotet. Sie ballte beide Hände zu Fäusten, zog sie an ihre Brust. Es dauerte, bis sie die richtigen Worte fand. «Das ist wahr», gab sie schliesslich zu. «Ich tat es für Sebastian. Und auch für mich, denn ich bin mitschuldig.»
«Wovon redest du da bitte?» Sebastian Keller löste sich vom Griff der Polizisten, sah sie verständnislos an. «Ich setze mich hier für dich ein und du machst mich zum Sündenbock, um deinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen?»
«Hör auf, Sebastian. Ich weiss, was du getan hast.»
«Bitte?» Als Sebastian auf sie zutrat, versetzte das die Polizisten wieder in Alarmbereitschaft. «Dann sprich es aus! Was soll ich getan haben, du undankbares …»
«Du hast Magnus auf dem Gewissen.»
Sebastians Mund klappte auf, entsetzt. «Geht’s noch?», fragte er entrüstet, schnaubte. «Das warst doch du! Versuch also ja nicht, es mir in die Schuhe zu schieben.»
Daniela zog die Brauen zusammen, spannte ihre Muskeln an. Sie baute sich vor ihm auf wie eine Mutter vor ihrem zehnjährigen Sohn. «Ach bitte, du hast mehr zu verlieren als ich! Als du erfahren hast, dass er von unserer Affäre weiss …»
Sebastian schnaubte, wollte gerade wieder ansetzen, wurde aber unterbrochen.
Ein missvergnügtes, tiefes Räuspern durchschnitt den Raum, brachte beide zum Schweigen. Der werte Herr Kommissar – Beat Schneider – stellte sich zwischen sie, forderte sofortige Aufklärung. Sein Ton war unerbittlich. Während er Daniela dabei zuhörte, wie sie die Umstände schilderte, fasste er sich wieder an seinen langen Bart (eine Angewohnheit, die wohl seinem Denkprozess zugutekam) und unterzog Sebastian Keller eines strengen, verurteilenden Blickes. Seit einem halben Jahr schon soll der Gemeindepräsident zweigleisig fahren.
Es stellte sich heraus, dass sich Magnus Brunner nur wenige Tage vor seinem Tod ein Glas nach dem anderen im Wirtshaus genehmigt hatte. In seinem Rausch habe er Daniela Roth mitleidig zugesehen und ihr dann gebeichtet, dass er von den beiden wusste. Dass er sie zufällig in der Stadt gesehen habe. Dass er es für falsch befand, gerade im Hinblick auf die Gesundheit der Ehefrau von Sebastian Keller. Und er empfahl ihnen, aufzuhören, denn der Bund der Ehe sei heilig. Daniela hatte alles von sich gewiesen, jedwede Unterstellung entschieden abgestritten, sich aber verhaspelt, sich mehrfach selbst widersprochen – und letztlich waren es ihre Tränen gewesen, die sie Lügen gestraft hatten.
Als sie Sebastian Keller davon berichtet hatte, am Morgen vor Magnus Brunners Tod, sei er blindwütig aus dem Wirtshaus gestürmt – ohne Mantel, ohne ein Wort des Abschieds, nur mit dem brennenden Bedürfnis, den Arzt zur Rede zu stellen. Er für seinen Teil beichtete, letztlich davon abgesehen zu haben, zumal Daniela selbst nochmal in Ruhe mit Magnus darüber sprechen wollte. Beide wollten an jenem Sonntag zu ihm. Und beide hatten es nicht getan, gingen aber davon aus, dass der jeweils andere womöglich beim Unfall nachgeholfen hätte.
Nachdem die beiden davon berichteten, herrschte Stille. Selbst Jonas Schmid, der sonst immer munter schien, wirkte bedrückt, verwirrt, und allem voran verunsichert. «Das wusste ich alles nicht», wisperte er, kaum hörbar. Er, der mit allen gutgestellt war, alle gut zu kennen glaubte.
Eveline Pfister, die Floristin, schloss sich ihm an. «Ich hatte ja keine Ahnung …»
Alle waren fassungslos. Regungslos. Stumm.
Nicolas atmete tief durch. Dann stand er auf, schwerfällig.
«Es ging mir nicht um die Hyazinthe», berichtigte er und rückte damit wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. «Auch, wenn das einiges erklärt. Wärt ihr alle so freundlich, mir eure Handflächen zu zeigen? Ich würde gerne etwas prüfen.»

Magnus Brunner
Ein warmherziger und allseits geschätzter Hausarzt, der sich nach dem Verlust seiner Frau in dieses Bergdorf zurückgezogen hatte. Er war 53 Jahre alt. Weil er seine geliebte Frau nicht hatte retten können, hielt er sich seines Doktortitels nicht mehr würdig und lehnte jede entsprechende Anrede ab. Für die Menschen im Dorf aber war und blieb er ein hervorragender Arzt und geübter Seelenklemptner. Umso tiefer sitzt der Schock darüber, dass ausgerechnet er das Opfer dieses Falls geworden ist.
Quelle Titelbild und Charakterbilder: Sora AI
Quelle dekorative Devider: Adobe Stock | 1574399334
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Wenn ich mal nicht gerade damit beschäftigt bin, meiner literarisch-kreativen Ader freien Lauf zu lassen, stecke ich höchstwahrscheinlich in einem Netflix-Marathon fest («Nur noch eine Folge!»), unterhalte ich mich angeregt über die verschiedensten Themen, lese ein gutes Buch oder fordere mich selbst mit einem neuen Hobby heraus. Meine Wissbegierde kennt keine Grenzen, und hier habe ich die Möglichkeit, sie auszuleben und mit anderen zu teilen.
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