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Die Schlüsseljungfrau von Tegerfelden wartet auf ihre Erlösung

17.10.2025

Um eine Burgruine im aargauischen Tegerfelden ranken sich zahlreiche Legenden. Eine Jungfrau soll sich dort einst in den Tod gestürzt haben, weil ihre adlige Familie ihren Geliebten verschmäht und aus dem Weg geschafft hatte. In einem weissen Gewand und mit einem Schlüsselbund ist sie seither gemäss der Lokaltradition mehr als einem Dutzend Menschen begegnet – in der Hoffnung auf Erlösung.

Im Zeitraum von schätzungsweise fünfhundert Jahren soll die Schlüsseljungfrau mindestens zwölfmal gesichtet worden sein. Meist trat sie mit den Menschen in Kontakt, und manche nahm sie sogar mit in die verschlossenen Gewölbe der verfallenen Burg. Für einen Geist macht sich die Schlüsseljungfrau also nicht sonderlich rar. Und nirgends wird davon berichtet, dass sie jemals erlöst worden sei. Ist demnach anzunehmen, dass die Holde immer noch hoch über Tegerfelden auf ihre:n Befreier:in wartet? Unser Blogbeitrag beleuchtet die historischen Hintergründe, die Sage von der Schlüsseljungfrau und die Erzählungen über ihre zahlreichen Sichtungen als Untote.

«Von Tegerfelden» – einst ein klingender Name

Vermutlich schon vor 1100, im tiefsten Mittelalter also, erbauten mächtige Herren oberhalb des Dorfes Tegerfelden die Burg, von der heute noch die Mauern und ein Rest des Turmes stehen. Wenig später tritt das Geschlecht der «von Tegerfelden» erstmals in Urkunden in Erscheinung. Ein steiler Aufstieg folgte, und im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert gehörte die Adelsfamilie zu den einflussreichsten weit über die Region hinaus. Dann scheint der Zenit überschritten, und die von Tegerfelden treten nur noch in Nebenrollen der Geschichte auf, bis das Geschlecht Ende des 14. Jahrhunderts erlischt. Der Stammsitz ist da längst aufgegeben worden: Bereits 1269 gilt die Burg in Urkunden als Ruine.

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Hat ein Königsmord Unheil über Tegerfelden gebracht?

1308 wurde in Königsfelden bei Brugg der römisch-deutsche König Albrecht I. aus dem Haus Habsburg ermordet. An der Verschwörung beteiligte sich auch Ritter Konrad von Tegerfelden. Gemäss der lokalen Sagentradition war es die Königstochter Agnes, die daraufhin die Burg Tegerfelden erstürmen liess und Blutrache vollzog. Verlässlichere Quellen bezeugen aber, dass die Burg bereits früher – vielleicht aufgrund eines Brandes – verlassen wurde.

Die Wiederkehr der Schlüsseljungfrau als Geist

Zahlreiche unterschiedliche Erzählungen, auf die eine oder andere Weise zu einer längeren Sage zusammengesetzt, berichten von Begegnungen mit einem Geisterwesen in der Umgebung der Burgruine. Dabei handelt es sich um die Schlüsseljungfrau, zu erkennen nicht nur an ihrem Schlüsselbund mit neunzehn Schlüsseln, sondern auch an ihrem weissen Kleid, ihrer betörenden Gesangsstimme und einem schwarzen Hündchen mit einem roten Halsband, welches sie oft begleitet. Bei einer ihrer Unterhaltungen mit einem Normalsterblichen soll sie auch die Geschichte hinter ihrem Wiederkehren in Gestalt eines Geistes erzählt haben.

Strafe für Einbildung und Eitelkeit

«Das gefiel meiner Eitelkeit, wenn hier täglich die Ritter scharenweise einzogen, und das behagte dem Dünkel der Meinen, wenn ich täglich jeden neuen Werber ausschlug, der nicht im Stande war, dreimal unsere Burg auf ihren jähen Felsen zu umreiten. Alle stürzten sie hinab und fanden im Flusse den Tod», wird die Schlüsseljungfrau zitiert. Einer jedoch kam, dem das Kunststück gelang. Leider war es mit seiner Adeligkeit nicht sehr weit her, weshalb sich die Familie der Umworbenen bemüssigt fühlte, den Möchtegern mit einem rasch zusammengebrauten Verlobungstrank ruhigzustellen – und ihn danach durchs Fenster dorthin zu befördern, wo seine Konkurrenten zuvor mit ihren Rössern gelandet waren.

Eine Verzweiflungstat

Tatsächlich aber war der Gute nicht nur ein geschickter Reiter gewesen, sondern hatte auch das Herz der holden Jungfrau erobert. Blankes Entsetzen packte sie bei der Nachricht vom Tod ihres Auserwählten – und so sprang auch sie in die unselige Schlucht. «Zur Strafe muss ich nun hier die Hüterin der Opfer meines Übermutes sein», erklärt die Schlüsseljungfrau; im Gewölbe unter der zerfallenen Burg schlummern nämlich all die Kinder, die sie nie gehabt hat. Und sie fleht: «So hilf mir denn, sonst kann ich nicht selig werden.» Was aber auch immer die Schlüsseljungfrau von den Menschen verlangt: Niemand meistert die Prüfungen – auch wenn sie leichter sind als das Umreiten der Burg.

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Sagen: Lange nur mündlich überliefert, heute in Büchern vor dem Vergessen bewahrt

Seit jeher haben sich die Menschen Geschichten erzählt, die im Laufe der Zeit zu Sagen mutiert sind. Erst im 19. Jahrhundert ist in Mitteleuropa das Bedürfnis erwacht, diese zu sammeln und niederzuschreiben. Zwei Sammlungen haben mir als Quelle zur Sage der Schlüsseljungfrau gedient:

  • Ernst Ludwig Rochholz, Schweizersagen aus dem Aargau, Aarau 1856.
  • Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1914.

Während Rochholz' Version der Sage zehn Episoden umfasst, erzählt Lienert deren fünf, wovon vier mit gewissen Unterschieden auch bei Rochholz vorkommen. Die Episoden folgen keinem einheitlichen Muster und sind wohl zu verschiedenen Zeiten von diversen Individuen erfunden (oder halluziniert) worden. Schon vor der Niederschrift in Büchern dürften diese Episoden zu längeren Erzählungen zusammengesetzt worden sein. Während die ältesten Schilderungen von Begegnungen mit der Schlüsseljungfrau ihre Wurzeln im Spätmittelalter haben könnten, sind andere wohl im 19. Jahrhundert hinzugekommen.

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Stephi und Joy aus unserem Social-Media-Team haben sich zur Burgruine Tegerfelden gewagt. Quelle: Andy Was Right

Begegnungen mit einem Engel aus der Unterwelt

Du liest diesen Beitrag, weil du mehr über Begegnungen mit übersinnlichen Wesen erfahren möchtest? Gut, dann wird es nun spannend. Die Schlüsseljungfrau, anmutig zwar mit ihrem wallenden Haar und dem langen Kleid, wird nämlich sehr ambivalent wahrgenommen. Öfters soll sie sich Kindern gezeigt haben, dabei nicht einmal um Erlösung bittend, sondern aus reiner Kinderliebe. Und während von einem Kind berichtet wird, das sich von ihr Märchen erzählen liess, sollen andere schon bei ihrem Anblick die Flucht ergriffen haben. Erschreckt hat sie vielleicht, dass die Schlüsseljungfrau mehr schwebte als ging. So bemerkte gemäss der Sage ein aufmerksamer Schustergeselle: «Es war kein Schreiten, da sie sich entfernte, man konnte nicht einmal die Bewegungen eines Fusses wahrnehmen.»

Einblicke ins Reich der Untoten

Dennoch soll es Unentwegte – allesamt erwachsene Männer – gegeben haben, die sich auf die Prüfungen der Schlüsseljungfrau einliessen und dabei die volle Dosis Spuk abbekamen. Die detaillierteste Beschreibung der Gewölbe unter der Burg geht gemäss der Sage auf einen Drechsler aus dem Nachbarort Döttingen zurück. In drei Säle führt ihn die Schlüsseljungfrau: Im ersten soll er die von den Burgfelsen hinabgestürzten Ritter erlösen, im zweiten die Angehörigen ihres Geschlechts und im dritten ihre ungeborenen Kinder. Die Prüfungen in den ersten zwei Sälen, beide durch Hunderte von Kerzen erleuchtet, stellen ein Kinderspiel dar: Zuerst hat der Drechsler das schwarze Hündchen zu küssen, dann die Jungfrau, deren Lippen sich dabei als eiskalt erweisen.

Von Schlangen und Riesenkröten

Im dritten Saal, erhellt von einem «milchigen, körperlichen Licht», wendet sich das Schicksal. Zwar schreitet der Drechsler mutig über die sich aufbäumende Schlange hinweg, die mitten im Saal liegt. Zu küssen aber hat er hier «eine riesenhafte Laubkröte» (Lienert) beziehungsweise «die grosse Ungestalt einer gedunsenen Dorschkröte» (Rochholz). Der gute Wille ist da, der Drechsler neigt sich herab, doch der Rücken des Monsters sieht noch widerwärtiger aus als seine Visage. Unvermittelt tritt der Erlöser in spe einen Schritt zurück, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf: Die Schlüsseljungfrau schreit auf, ihr weisses Kleid wird kohlschwarz, ein Erdbeben bricht los, und während die Kindlein weiterhin nicht zum Leben erwachen, fällt der Drechsler in Ohnmacht. Am nächsten Tag wacht er in einem Fuchsloch vor der Burg wieder auf und gilt von da an als dem Irrsinn verfallen.

Wo ist die Schlüsseljungfrau heute?

Seit der Publikation von Meinrad Lienerts Sagensammlung ist die Schlüsseljungfrau meines Wissens nicht mehr gesichtet worden. Liebe Bewohner:innen von Tegerfelden und Umgebung, bitte nutzt die Kommentarspalte und korrigiert mich, sollte ich mich irren. Doch wen würde es wundern, wenn es dem Geisterwesen schlicht nicht mehr gelingt, auf sich aufmerksam zu machen? Ist doch unsere heutige Welt voller Lärm und Lichtverschmutzung. Vielleicht hat die Schlüsseljungfrau auch bereits das Weite gesucht, als direkt an der Burgruine vorbei die Überlandstrasse nach Würenlingen gebaut wurde? Werden wir es je herausfinden?

Als belegt darf jedenfalls gelten, dass die Tegerfelder über einen reichen Sagenschatz verfügen. Und wahrscheinlich dürfen wir zum Schluss kommen, dass über Generationen hinweg viele Bewohner:innen mit lebendiger Fantasie im Dorf ansässig waren. Nota bene: An den Südhängen Tegerfeldens wird im grossen Stil Wein angebaut. Vielleicht besteht hier ja irgendein Zusammenhang.

 

Quelle Titelbild: Andy Was Right

Yves Lenzin

Content Marketing Manager

Schreiben ist meine Profession und Leidenschaft. Ich liebe es, mich den unterschiedlichsten Themen und Textformen zu widmen und beim Recherchieren Fachwissen aus allen möglichen Bereichen zu erwerben. Abgesehen davon, dass ich für Brack.Alltron Blog- und Ratgeber-Inhalte verfasse, bin ich auch aktiver Historiker.

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