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Festhalten versus Erleben: Erinnerungsbewahrung als Paradoxon

01.12.2025

Das Konzert deiner Lieblingsband – ein unvergesslicher Augenblick, es schweben tausende Smartphones vor dir in der Luft. Wo liegt der Fokus der Menschen: auf dem flüchtigen Augenblick oder dem perfekten Shortclip? Die Vergänglichkeit ist wohl bekannterweise die einzige Konstante unserer Welt, und zugleich auch der grösste Feind der menschlichen Existenz. Unsere Spezies wollte seit jeher Momente konservieren. Ob als Höhlenmalerei in der Steinzeit, Bronze-Skulpturen im antiken Griechenland, Malereien des Mittelalters oder heutige Social-Media-Profile inklusive endloser Bildergalerien in der Cloud. Wir alle streben danach, der Schönheit Ewigkeit zu verleihen.

Aber liegt nicht genau hier die Krux: Die Momente sind doch für uns nur so einzigartig, weil sie einmalig und vergänglich sind? Weil sie uns mit jeder Sekunde entrinnen, und die einzige Beständigkeit dieses Erlebens der flimmernde Augenblick selbst ist? Wer in buddhistische Lehren schaut – hier beispielsweise in die westlich und psychologisch inspirierten Gedanken von Alan Wilson Watts – findet den Fokus auf dem präsenten Erleben. Nicht das Festhalten, sondern das bewusste Sein im Moment gilt als Ankerpunkt des Lebenssinns.


«Wir leben in einer Kultur, die vollständig hypnotisiert von der Illusion der Zeit ist, in der der sogenannte gegenwärtige Moment als nichts anderes empfunden wird als eine haarfeine Linie zwischen einer allmächtigen, ursächlichen Vergangenheit und einer fesselnden, bedeutenden Zukunft. Wir haben keine Gegenwart. Unser Bewusstsein ist fast vollständig mit Erinnerungen und Erwartungen beschäftigt. Wir erkennen nicht, dass es nie eine andere Erfahrung gab, gibt oder geben wird als die gegenwärtige Erfahrung. Wir haben deshalb den Kontakt zur Realität verloren.» Alan W. Watts


Sind wir voll im Moment, wenn wir beim nächsten Konzert Hit für Hit mitfilmen und Selfies schiessen? Wie oft schauen wir die unscharfen Bilder und Clip-Fetzen noch im Nachgang an? Und im Vergleich: Wie oft fühlen wir uns zurück in die gefühlte Essenz des Moments, wenn wir ihn wirklich mit allen Sinnen erlebt haben? Wir alle erinnern uns an die erste Liebe, das nervöse Herzklopfen vor dem ersten Treffen im Juni oder an kühle Herbstabende voller Nostalgie, an denen die Sonne hinter den rotgefärbten Baumgipfeln verschwand und ein frostiger Hauch unseren Körper schaudern liess. Kaum jemand hatte in diesen berührenden Augenblicken als Erstimpuls das Handy in der Hand. Wir geniessen sie stattdessen in Gänze und vollfokussiert. Doch verändert sich unsere Wahrnehmung dieser flüchtigen Impressionen mit zunehmender Technologisierung und Bildschirmzeit?

 

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Kindheitserinnerungen an einem See – wir alle kennen diese Augenblicke, die sich in unser Gedächtnis geradezu magisch einbrennen. Quelle: Ellie Lau | Unsplash

 

Das digitale Vermächtnis: Erinnerungen werden zu Bits

Wie viele Kilobytes braucht ein Gefühl voller Erfüllung mit Freunden an einem unvergesslichen Sommerabend? Wie viele Bilder benötigt ein Elternteil, um das erste Mal «Papa» anstatt «Dada» des eigenen Kindes zu konservieren? Fakten zeigen: Die Anzahl fotografierter Momente explodiert und gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit limitiert. Weltweit werden jährlich Milliarden von Fotos gemacht: die Zunahme der Bildproduktion ist ungebrochen. Junge Menschen sichern ihre Erinnerungen überwiegend digital mit ca. 1,2 Billionen Fotos pro Jahr weltweit, wovon 85 Prozent der Konsumenten-Fotografie via Smartphone möglich wird.

Digitales Speichern hat klare Vorteile: einfache Teilbarkeit, schnelles Suchen, automatische Backups. Doch Untersuchungen legen nahe, dass exzessives Dokumentieren die Erinnerung an Details schwächen kann (der sogenannte «Photo-Taking-Impairment Effect»), weil die Handlung des Festhaltens die Rolle der echten Wahrnehmung übernimmt. Zusätzlich entstehen Fragen der Langzeitverfügbarkeit: Clouds, Festplatten und Abos sind nicht automatisch «ewig». Backups, Formatwechsel und Datenschutz gehören zur Erinnerungspflege. Doch die Sehnsucht nach Unendlichkeit bleibt älter als die Cloud – sie reicht Jahrtausende zurück.

 

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Vor ca. 64’000 Jahren begannen die Neandertaler mit den ersten dokumentierten Höhlenmalereien. Das Bild hier zeigt exemplarische Tierzeichnungen auf Stein, die es so in verschiedensten Stilen in Höhlen überall auf der Welt gab. | Quelle: Don Pinnock | Unsplash

 

Die Rituale des Festhaltens: ein Menschheitstrieb

Der Mensch hat schon immer Rituale gebraucht, um Vergängliches zu zähmen. Höhlenmalereien, Skulpturen, Lieder, Gedichte – Ausdrucksformen, mit denen Gemeinschaften Bedeutungen konservieren und Kultur sich inszenieren konnte. Unsere Übertragungen dienen dabei als Vermächtnis: zum einen des Individuums, zum anderen der menschlichen Gesellschaft jener Zeit. Die Erfindung der Fotografie begann kommerziell mit der ersten legendären Kodak Rollfilm-Handkamera von 1888 und demokratisierte das Festhalten weiter. Erlebnisse konnten massenhaft und schnell dokumentiert werden, ohne dass das dafür nötige handwerkliche Geschick das Drücken eines Knopfes übersteigt.

 

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Die Original-Kodak von 1888 – die erste kommerzielle Kamera. | Quelle: Daniele Levis Pelusi | Unsplash

Heute sind Rituale wieder im Retro-Wandel: Bullet Journals, Tagebuchschreiben, Fotoalben und Sofortbilder erleben eine Renaissance. Das Schreiben von Hand mit Stift und Papier aktiviert laut einer wissenschaftlichen Studie der Universität Tokyo mehr neuronale Netzwerke als das Tippen: Motorik, Sensorik und die kognitive Verarbeitung werden stärker eingebunden, was Erinnerungsbildung und Reflexion fördert. Ein Eintrag im Notizbuch, ein analoges Foto im Album: Beides verlangt Auswahl, Interpretation und damit Intention.

Analog ist zurück – das Haptische zählt wieder

Gegen die endlose Scrollerei treten haptische Formate an: Sofortbildkameras, gedruckte Fotoalben und handgefertigte Scrapbooks bieten ein bewussteres Erlebnis des Bewahrens. Ein physisches Polaroid ist nicht nur ein Bild, es ist ein Objekt, ein Andenken, ein Gesprächsanlass. Meine Schwester hatte eine Polaroidkamera auf meinem Junggesellenabschied dabei – und die Bilder von diesem Abend sind mehr als nur Erinnerung, sie sind auch haptisch immer bei mir, eines davon in meinem Portemonnaie. Der Markt für Sofortbildkameras zeigt bereits seit einigen Jahren wieder Auftrieb, getrieben von Nostalgie, der Sehnsucht nach Authentizität und dem Reiz des Unvollkommenen und einer Mentalität, die lieber einen imperfekten Schnappschuss bevorzugt als zehn gestellte Versuche. Das Analoge steht sinnbildlich für das, was vielen in der digitalen Flut verloren geht: echte Berührung, Technik, reale Ergebnisse, eine Brise Zufall und kleine Makel, so wie das Leben eben spielt. Es sind genau diese Elemente, die Erinnerungen emotional aufladen und realistisch machen.

 

Zwischen Präsenz und Perfektion: Wie Technik den Blick verändert

Die dauerhafte Verfügbarkeit von Kameras hat eine paradoxe Folge: Je einfacher das Festhalten, desto weniger bewusst das Erleben. Untersuchungen zeigen, dass das Fotografieren von Objekten – etwa im Museum – dazu führen kann, dass Details schlechter erinnert werden als bei reinem Beobachten. Das sogenannte «Photo-Taking-Impairment»-Phänomen zeigt, dass das Bewahren-Wollen selbst manchmal das Erinnern erschwert. Auch das Phänomen der digitalen Reizüberflutung spielt eine Rolle: Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit stehen heute unter stärkerem Druck denn je. Zwar wird oft die sinkende Aufmerksamkeitsspanne zitiert, doch ob sie tatsächlich «unter der eines Goldfischs» liegt, ist umstritten – unbestritten ist aber, dass ständige Reizwechsel und Multi-Screening die Tiefe der Wahrnehmung mindern.

Kurzformate auf Social Media fördern schnelle, austauschbare Eindrücke, während echte Erlebnisse Zeit und Präsenz brauchen. Ein Konzert, das komplett durch den Handybildschirm erlebt wird, verliert vielleicht an Intensität – und das Video auf dem Speicher ersetzt nicht das Gefühl des Moments.

Doch Technik ist nicht per se schlecht. Mit Bedacht eingesetzt, kann sie das Erleben sogar vertiefen. Eine gut gewählte Kamera lädt zur Konzentration auf Bildkomposition, Licht und Stimmung ein, also auf das bewusste Sehen. Auch hybride Ansätze, ein Foto als Anker, ein handschriftlicher Eintrag als Reflexion, verbinden das Beste beider Welten.

 

 

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Was bleibt uns ausser Bilder und Erinnerungen? In Reflektion und Retrospektive erkennen wir oft erst die fragile Bedeutung sonst so alltäglich scheinender Momente. Quelle: Vince Fleming | Unsplash

 

In Reflexion: Was bleibt?

Wie viele Augenblicke sind in Speichern konserviert – und dennoch im Bewusstsein verloren? Vielleicht wird das Erinnern der Zukunft weniger eine Frage des Sammelns als der Selektion: Nicht alles dokumentieren, sondern mit Intention wählen. Meditation, Achtsamkeit und kleine Rituale können helfen, das innere Bedürfnis nach Bewahren in eine bewusstere Form zu bringen.

Dieses Weihnachtsfest könnte ein Experiment sein: ein Foto weniger, ein Erlebnis mehr. Und wenn ein Foto entsteht, dann eines, das mit Hingabe geschossen wird – ein Bild, das nicht nur dokumentiert, sondern erzählt . Denn manchmal sind es genau diese bewussten Aufnahmen, die später wirklich bleiben. Vielleicht ist und bleibt das schönste Bild ja das eine, das nur im Kopf existiert, aber nie aufgenommen wurde?

 

Maximilian Bauer

Marketing Manager Editorial Content

Ehemaliger Kulturjournalist, heute Unternehmenskommunikator mit B2B-Hintergrund in öffentlichen Institutionen und der Softwareindustrie. In meiner Freizeit dreht sich vieles um Technik in allen Facetten: eine zu grosse Gitarrensammlung, jede Menge Audio-Equipment und ungebrochene Musikleidenschaft. Dazu kommt das Fotografenauge – mit Schwäche für (leider) viel zu teure Kameras – und meine nostalgische Liebe zu PC-Spielen: von taktischen Shootern über Rollenspiele bis hin zu Strategie-Klassikern. Bei Brack darf ich über all das schreiben, was mich schon immer fasziniert hat.

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