
Empörung als Content
Unverständnis, Ärger, Wut: Sie landen heute nicht mehr direkt beim Servicepersonal oder im Gespräch unter vier Augen, sondern online. In einer Insta-Story, in einem TikTok-Video, im Chat mit 27 Leuten, die gar nicht dabei waren. Es scheint fast, als hätten wir unsere kollektive Frustbewältigung komplett ins Netz verlegt. Die Likes purzeln, die wütenden Emojis fliegen, die Zustimmung ist garantiert. Der Frust wird Content. Und wir sind mittendrin.
Gemütlich auf dem Sofa chillen, durch Social Media scrollen, ein paar Tanz-, Baby- oder Katzenvideos anschauen. Doch schon nach dem dritten Clip schnellt der Puls hoch: Eine Mutter, die sich aufregt, weil es in der Kita schon wieder nur ein Vegi-Menü gab. Dazu dramatische Musik und in grossen Buchstaben: «Mein Kind ist doch kein Kaninchen!» Ein paar Swipes weiter: Eine Frau filmt aus dem Fenster, wie der Pöstler das Paket auf den Boden knallt. «Schon das DRITTE Mal! Wo bleibt der Respekt?!» Dann ein Aufreger-Video aus dem Zug. Ein Teenie mit den Füssen auf dem Sitz. Die Kamera zoomt schön langsam ran. «Wo sind wir hier bitte gelandet?!»
Die bequeme, aber wirkungslose Wut
Ein kurzer digitaler Wutausbruch fühlt sich im ersten Moment gut an, die Reaktionen kommen prompt und man fühlt sich gehört, verstanden und getröstet. Psychologisch nennt man das: stellvertretende Handlungskompetenz. Wir fühlen uns aktiv, obwohl wir passiv bleiben. Doch dann? Passiert nichts.
Der Falschparker steht morgen wieder da. Am Menüplan ändert sich nichts und das Päckli ist genauso zerdrückt im Briefkasten wie die Woche zuvor. Die digitale Empörung ist zwar bequem, bringt kurzfristige Befriedigung, Kommentare und eine gewisse Reichweite, ist aber meistens erschreckend wirkungslos.
Empörung als Unterhaltung
Was früher ein Gespräch auf dem Pausenplatz, im Restaurant oder im Supermarkt war, ist heute ein Format.
Empörung ist zur Unterhaltung geworden. Wir selbst sind nicht ganz unschuldig daran. Wir schauen uns an, wie andere sich aufregen, kommentieren, teilen und schicken es weiter. Ein bisschen wie Netflix, nur mit mehr Wut und schlechterer Auflösung. Dabei fragen wir uns viel zu selten, ob diese öffentliche und laute Aufregung wirklich gerechtfertigt ist. Irgendwie gehört es schon so ein bisschen zum Spiel: Wer laut genug schreit, bekommt mehr Aufmerksamkeit!
Die Kritik wird immer mehr zur Inszenierung und wir alle, die diese Empörung tagtäglich konsumieren, verlernen, wie man im echten Leben, klar, ehrlich und angemessen Kritik äussern kann.
Und während wir Erwachsenen wütend filmen, tippen, posten und kommentieren, schauen unsere Kinder zu.
Und was lernen sie dabei?
Konflikte klärt man nicht, man teilt sie. Kritik spricht man nicht aus, man kommentiert sie. Probleme zeigt man nicht der betroffenen Person, sondern dem Internet. Dabei wünschen wir uns doch genau das Gegenteil:
- Kinder, die sagen können, was sie stört. Angemessen und möglichst sachlich.
- Kinder, die sich wehren können.
- Kinder, die für sich und andere einstehen.
Aber das lernen sie nicht durch Beobachten, sondern durchs Mitmachen. Durchs Vorleben. Durch uns Eltern (und Erwachsene allgemein), die zeigen:
Man darf mutig sein, etwas sagen. Und zwar direkt, freundlich, ohne sich hinter einem anonymen Profilbild zu verbergen.
Kritik vor Ort statt digitaler Pranger
Wer als Firma, Hotel oder Restaurant in einen Empörungsstrudel gerät, steht oft machtlos da. Denn was als kleiner Fehler begann, kann sich online rasant zu einem Shitstorm entwickeln. Die Bewertungen häufen sich, die Wut schaukelt sich hoch und es bleibt kaum Raum für ein klärendes Gespräch oder eine faire Reaktion.
Dabei wäre eine Reklamation vor Ort meist viel hilfreicher und vor allem fairer. Man kann direkt reagieren, Missverständnisse ausräumen, sich entschuldigen, Lösungen anbieten. Online hingegen bleibt oft nur noch Schadensbegrenzung, denn der betroffene Betrieb hat kaum noch eine Chance, den Kunden persönlich zufriedenzustellen.
Was wäre, wenn wir...?
Unsere ganze Energie, die wir in Posts, Storys und Chats stecken, wieder dorthin lenken würden, wo sie wirklich wirkt? Wenn wir bei Lärm mal nicht nur genervt schauen, sondern mit den Leuten reden? Wenn wir uns bei der Gemeinde melden, statt nur das Müll-Foto auf der Facebookseite zu posten? Wenn wir uns im Verein, in der Elterngruppe einbringen, statt in der Chatgruppe Dampf abzulassen?
Und ja, das ist vielleicht etwas mühsamer. Und vor allem: Nicht so schnell, nicht so sichtbar. Aber es ist wirksam und oft überraschend heilsam. Denn ein ruhiges, ehrliches Gespräch kann mehr bewirken als 100 Kommentare mit rotem Dampf-Emoji.
Ein kleiner Aufruf zum analogen Aufstand (im besten Sinne):
Das nächste Mal, wenn euch etwas wirklich stört, versucht doch mal Folgendes:
Durchatmen:
Bevor ihr zum Handy greift, nehmt einen tiefen Atemzug. Muss das wirklich online landen?
Direkt ansprechen (wenn möglich und sicher):
Manchmal hilft ein ruhiges Gespräch Wunder. Ja, es ist anstrengend, aber oft effektiver.
Sich zusammentun:
Gibt es andere, die das Problem auch sehen? Gemeinsam ist man stärker.
Analoge Kreativität:
Ein sachlich formulierter Brief, eine kleine Kaffee- und Plauderrunde, eine nachbarschaftliche Initiative; es gibt viele Wege, auf Missstände aufmerksam zu machen, ohne den digitalen Pranger zu nutzen.
Also warum nicht einfach: Weniger Wut-Story, mehr Mut-Story?
Probiert es aus! Sagt was euch stört, und zwar dort, wo es jemand wirklich hören kann.
Redaktorin, Bloggerin, zuständig für Familienthemen
Eltern-Bloggerin I Mom von 2 erwachsenen Töchtern I Open Air Fan I Bernerin I Rollerskaterin I Testet sehr gerne Wellnesshotels, Haushalts- und Kosmetikgeräte
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