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Kunstwissen: Weshalb schreit der Schrei?

22.09.2025

Er hält sich beide Ohren zu; verängstigt, bestürzt. Blankes Entsetzen steht in seinen Augen geschrieben. Der Mund weit aufgerissen, als würde ein ohrenbetäubender Schrei aus ihm hervorbrechen. Doch – wer ist er eigentlich? Und was hat ihn dermassen erschüttert?

Unter einem rotverhangenen Himmel steht eine geisterhafte Gestalt und schreit – zumindest augenscheinlich. Um sie herum ist alles verzerrt. Hinter ihr laufen zwei Silhouetten die Strasse entlang. Edvard Munchs «Der Schrei» gehört zweifelsohne zu den berühmtesten Werken der Kunstgeschichte. Die ikonische Gestalt auf dem Gemälde bildet eine Quelle der Inspiration für allerlei Medien; von Plakaten über Filmen bis hin zu Emojis auf Social-Media-Plattformen.

Obwohl das Kunstwerk so bekannt ist, herrscht bis heute ein hartnäckiges Missverständnis vor: Viele glauben «Der Schrei» würde von der Figur auf dem Bild ausgehen – ein Schrei so schrill und verzweifelt, dass er das gesamte Bild verzerrt. Der Blick in Munchs Textsammlungen spricht jedoch für eine andere Sichtweise.

Ein Gemälde, das nach Aufklärung schreit

Die Gestalt sieht so aus, als würde sie beide Hände an ihre Wangen pressen und einen markerschütternden Schrei ausstossen. Munch jedoch widerspricht dieser Annahme: Er hat mehrere Versionen eines Textes zurückgelassen, die genau denselben Schluss nahelegen – nämlich, dass die Figur auf einen Schrei reagiert, und ihn nicht selbst hervorbringt.

«Ich ging mit zwei Freunden die Strasse entlang - die Sonne ging unter - ich fühlte einen Hauch von Wehmut. Der Himmel färbte sich plötzlich blutig rot - ich blieb stehen, lehnte mich todmüde gegen einen Zaun - sah die flammenden Wolken wie Blut und Schwerter - den blauschwarzen Fjord und die Stadt. Meine Freunde gingen weiter - ich stand da, zitternd vor Angst und ich fühlte, wie ein langer, unendlicher Schrei durch die Natur ging.» (Quelle: Staatsgalerie Stuttgart)

Darüber, ob es sich bei dem Text um einen Tagebucheintrag oder vielmehr einen literarischen Entwurf handelt, sind sich Historiker:innen nicht einig. Tatsächlich handelte es sich bei Munch um einen Literaturliebhaber, der nebst dem Pinsel auch gerne zur Feder griff. Durch seine Texte überwiegt die Deutung, dass die Figur einen «Schrei durch die Natur» hört und sich die Ohren zuhält. Schliesslich deckt sich die Beschreibung mit dem Bild: Der rote Himmel; der Zaun; die zwei Silhouetten. Bei der Landschaft handelt es sich vermutlich um den Fjord in Christiana, das heutige Oslo.

Es gibt nicht nur einen Schrei

Wusstest du, dass es von dem Gemälde ganze vier Versionen gibt? Die erstgemalte stammt aus dem Jahr 1893 und hängt im norwegischen Nationalmuseum. Die zweite Version aus demselben Jahr sowie die vierte Version aus dem Jahr 1910 befinden sich im Munch-Museum in Oslo, während die dritte Version aus dem Jahr 1895 in Privatbesitz ist.

Ist Munch die Gestalt auf dem Bild?

Ob es sich bei der Figur auf dem Bild um Munch selbst handelt, bleibt unklar. Seine Texte wirken auf den ersten Blick wie Tagebucheinträge, haben jedoch klaren literarischen Charakter und wurden mehrfach von ihm verfeinert. Hinzu kommt, dass die Figur ihm nicht ähnelt. Bisher wurde ihr weder eine Identität noch ein Geschlecht zugeschrieben, zumindest offiziell nicht. Viele Interpretationen sehen die Figur als Symbol der Angst oder existenziellen Verzweiflung, und nicht als Munch selbst. Sie sieht aus wie ein Geist oder eine Gestalt mit totenkopfähnlichen Zügen – daher kursiert auch die These, dass sie von einer peruanischen Mumie inspiriert sei, die Munch bei einem Museumsbesuch in Paris gesehen habe.

«Kann nur ein Verrückter gemalt haben!»

Das erste Gemälde aus dem Jahr 1893 beherbergt eine Inschrift mit den Worten «Kan kun være malet af en gal Mand!», was übersetzt bedeutet: «Kann nur ein Verrückter gemalt haben!» Erstmals erwähnt wurde der Fund in Verbindung mit der Ausstellung in Kopenhagen 1904. Lange hing der Verdacht im Raum, jemand hätte sich am Bild zu schaffen gemacht. Das Nationalmuseum in Norwegen leitete eine Untersuchung ein und kam zum Schluss, dass die Handschrift Munch selbst angehört. (Quelle: Nationalmuseum Norwegen)

Ein Schrei, der bis heute widerhallt

Munchs «Der Schrei» ist ein Sinnbild. Ein Schrei, der nicht von einer einzelnen Figur ausgeht, sondern aus der Tiefe der Welt, aus der Spannung zwischen Mensch und Natur. Die geisterhafte Gestalt auf dem Gemälde wird zur Projektionsfläche für die Ängste, Krisen und existenziellen Fragen jeder Generation. Ob als Meme in der digitalen Gegenwart oder als Symbol der Verzweiflung in düsteren Zeiten – der Schrei verliert seine Dringlichkeit nicht. Vielleicht liegt darin seine Kraft: Er ist nicht an eine Zeit, nicht an ein Gesicht gebunden, und hallt bis heute nach.

 

Quelle Titelbild: Adobe Stock | 732558380

Duygu Özdemir

Content Marketing Managerin

Wenn ich mal nicht gerade damit beschäftigt bin, meiner literarisch-kreativen Ader freien Lauf zu lassen, stecke ich höchstwahrscheinlich in einem Netflix-Marathon fest («Nur noch eine Folge!»), unterhalte ich mich angeregt über die verschiedensten Themen, lese ein gutes Buch oder fordere mich selbst mit einem neuen Hobby heraus. Meine Wissbegierde kennt keine Grenzen, und hier habe ich die Möglichkeit, sie auszuleben und mit anderen zu teilen.

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