
«Zeichnen? Dafür fehlt mir das Talent.»
Zeichenkunst ist etwas, das nur wenigen Auserkorenen zufällt – etwas, das du entweder in die Wiege gelegt bekommst oder nicht. Weshalb solltest du dich da also überhaupt heranwagen? Ganz einfach: Zeichnen ist kein angeborenes Talent, sondern eine Fähigkeit, und Fähigkeiten kannst du lernen.
Kurz und knapp
Zeichnen ist kein angeborenes Talent – es ist eine erlernbare Fähigkeit wie jede andere.
Gutes Sehen will geübt sein: Achte auf Formen, Proportionen, Licht und Schatten.
Stillleben sind ein guter Weg, das Zeichnen Schritt für Schritt zu üben.
Formen und Schraffur: Mit einfachen Übungen wirst du sicherer im Umgang mit dem Stift.
Routine schlägt Marathon – kurze, regelmässige Übungseinheiten bringen dich schneller ans Ziel.
«Also über ein Strichmännchen käme ich nicht hinaus.»
Hast du das auch schon mal gehört? Oder vielleicht sogar selbst gesagt? Der Gedanke an sich ist nicht ungewöhnlich, denn im Grunde ist es so: Viele von uns geben ein neues Hobby auf, wenn sie nicht schon beim ersten, zweiten oder dritten Versuch gute Resultate erzielen. Ob uns etwas besonders gut liegt oder nicht, glauben wir schon zu Beginn feststellen zu können. Auf den ersten Blick scheint das gar nicht so verkehrt; denn wer möchte schon viel Mühe und Zeit in etwas investieren, das ohnehin zum Scheitern verurteilt ist? Dabei vergessen wir leider oft, dass wir erst am Anfang stehen – und dass die Reise das eigentliche Ziel ist.
Übung macht den Meister
Vielleicht kannst du es schon nicht mehr hören, doch an diesem alten Sprichwort ist wirklich was dran. Selbst denjenigen, die mit Talent gesegnet wurden, werden die Fähigkeiten nicht einfach auf dem Silbertablett serviert. Übung ist der Schlüssel. Wer herausragende Fähigkeiten in einem Gebiet entwickeln möchte, wird nicht drum herumkommen, viel Zeit und Geduld zu investieren. Dabei ist allerdings nicht nur Regelmässigkeit wichtig, sondern auch die Methodik – denn um schnell Fortschritte erzielen zu können, brauchst du die richtige Herangehensweise. Diese mag zwar für jede Person etwas anders sein, doch eins steht fest: Sture und gedankenlose Wiederholungen ohne Strategie stossen gerne an Grenzen.
In den folgenden Zeilen findest du die wichtigsten Grundlagen und passende Übungen, um deine Zeichenkünste methodisch aufzubauen.
Sehen lernen: Formen, Proportionen, Licht und Schatten
«Ich kann doch sehen», magst du vielleicht denken. Aber kannst du auch sehen wie eine Künstlerin oder ein Künstler? Beim Zeichnen ist das Sehen der einzig wichtige deiner Sinne. Ein flüchtiger Blick reicht jetzt jedoch nicht mehr aus – wer Zeichnen lernt, muss richtig hinsehen. Das bedeutet konkret:
Versuche, Formen auszumachen. Eine Hand ist nicht mehr einfach eine Hand; sie besteht aus Kreisen, Ovalen, Rechtecken und Linien. Alles ist aus Formen zusammengesetzt – und anstatt Objekte als Ganzes zu sehen, solltest du sie gedanklich in Formen zerlegen. So kannst du die Kontur besser erfassen.
Achte auf die Proportionen. Vergleiche die Grössenverhältnisse zwischen einzelnen Teilen. Wie gross ist der Kopf im Verhältnis zum Körper? Wo beginnt die Taille im Vergleich zur Schulterhöhe? Miss die Grössenverhältnisse mithilfe deines Bleistifts ab, um ein Gefühl für stimmige Proportionen zu bekommen. Wenn der Zeichenblock flach auf der Tischplatte vor dir liegt, könntest du die Proportionen falsch wiedergeben. Daher solltest du den Block immer mal wieder aufrichten und die Verhältnisse prüfen.
Beobachte, wie das Licht einfällt. Achte auf die Lichtquelle: Kommt das Licht von oben, von der Seite oder schräg? Helles Licht erzeugt starke Kontraste, weiches Licht lässt sanftere Übergänge entstehen. Je nachdem, wie das Licht fällt, verändert sich die Wirkung des Objekts. Wo trifft das Licht auf das Objekt? Das sind die hellsten Stellen.
Siehe dir die Schatten genau an – denn wo Licht ist, entsteht auch Schatten. Gibt es harte oder weiche Schattenkanten? Wo ist der Schatten am dunkelsten und wo am hellsten? Wo fängt er an und wo hört er auf? Wie stark ist der Kontrast? Schatten sind deine Freunde: Sie verraten dir eine Menge über die Form des Objekts und helfen dir dabei, es dreidimensional darzustellen.
Beachte auch das Material. Ist es glatt oder eher rau? Glänzt es – oder ist es ganz stumpf und matt? Licht und Schatten helfen dir dabei, das Material richtig einzufangen und glaubwürdig wirken zu lassen. Schliesslich reflektiert ein Objekt das Licht je nach Beschaffenheit anders; glänzendes Material wie zum Beispiel Silber zeigt klare Lichtreflexe, während matte Flächen das Licht diffus streuen.
Wie übst du das am besten?
Eine bekannte Methode, das «künstlerische» Sehen zu lernen, sind die sogenannten Stillleben. Stillleben sind die Darstellung von – wie der Name bereits sagt – leblosen Objekten, die «stillstehen». Sie werden künstlerisch angerichtet und anschliessend gezeichnet oder gemalt. Ein beliebtes Motiv dabei ist die Obstschale mit verschiedensten Obstsorten. Das wäre für den Anfang jedoch viel zu schwierig, also fängst du am besten mit den einzelnen Früchten an, vielleicht sogar gleich im Verhältnis:
Den Boden kannst du vorerst als weisse Fläche behandeln, es geht schliesslich nur um die Früchte. An Farben wagen wir uns auch noch nicht heran. Und glaub mir: Schon das ist schwieriger, als es aussieht. Jetzt, da du die Grundlagen für das Sehen gelernt hast, erkennst du wahrscheinlich auch gleich die grösste Herausforderung an diesem Bild – nämlich die Oberfläche des Apfels. Lass dich von dieser nicht einschüchtern und gehe es Schritt für Schritt an: Erfasse erst die Formen und Proportionen, zeichne die Kontur und kümmere dich erst dann um Licht und Schatten. Sobald du etwas mehr Übung hast, kannst du zu Schachfiguren als Motive übergehen – und irgendwann zu Kissen. Verhindere beim Zeichnen von Stillleben unbedingt, dass dein inneres Auge übernimmt. Du sollst sehen und nicht denken, das ist immerhin der Sinn dahinter.
Doch bevor du mit den Stillleben loslegst, möchte ich dir gerne noch ein paar weitere wichtige Grundlagen und Übungen an die Hand geben, die dich in der Methodik stärken.
Mit Hilfslinien arbeiten und vorzeichnen
Du solltest die Formen und Linien erst sanft mit dem Bleistift vorzeichnen und sicherstellen, dass die Proportionen stimmen, ehe du die Kontur mit mehr Druck nachziehst. Ignoriere dabei die Details und konzentriere dich rein auf die einzelnen Formen, aus denen sich das Objekt zusammenstellt. Die Hilfslinien kannst du danach mit einem Knetgummi wegradieren – oder einfach als Teil der Skizze belassen.
Wer noch keinen sicheren Umgang mit dem Stift hat, muss sich mit den Formen erst vertraut machen. Wie sattelfest du dich fühlst, erkennst du an deinen Linien: Mit wie viel Schwung hast du sie gezogen? Geübte Zeichnerinnen und Zeichner fürchten sich nicht mehr vor falschgezogenen Strichen in ihren Skizzen, deshalb steckt hinter ihren Linien eine gewisse Leichtigkeit – und damit Sicherheit. Kreise zeichnen sie schwunghaft und in einem Zug, ohne den Stift ab- und wieder anzusetzen. Der Schwung kommt dabei vom Handgelenk, nicht von Zeigefinger und Daumen.
So übst du das
Schnappe dir ein Blatt Papier und einen Bleistift. Alles, was du bei dieser Übung zu tun brauchst, ist, dich hemmungslos auszutoben. Zeichne verschiedene Formen wie Kreise, Dreiecke oder Vierecke, und achte darauf, dass der Schwung vom Handgelenk kommt. Versuche es mal mit mehr Druck, mal mit weniger. Achte darauf, den Stift bei den einzelnen Formen nicht abzusetzen. Ziehe gerade und gewellte Linien. Sobald du etwas Übung hast, kannst du dich auch an dreidimensionalen Formen versuchen. Die wichtigsten davon sind Quadrate und Zylinder.
Wenn du noch ganz am Anfang stehst, empfiehlt es sich, diese Übung täglich für mindestens fünf bis zehn Minuten auszuführen. Sobald du dich sicherer fühlst, kannst du sie einfach zum Aufwärmen vor dem Zeichen nutzen – wie eine Dehnübung vor dem Sport. Sie hilft dir dabei, dein Handgelenk und deinen Geist aufzulockern. Auf diese Weise reduzierst du das Risiko, dass deine darauffolgende Zeichnung zu steif oder krampfhaft wirkt.
Schraffuren und verschiedene Techniken
Wer mit einem Bleistift Schatten und Tiefe darstellen möchte, muss schraffieren. Schraffuren sind Striche, die in einer bestimmten Richtung und Dichte gezogen werden, um Licht oder Schatten darzustellen. Je dichter, kräftiger und überlappender die Linien sind, desto dunkler wird die Fläche. Unterschiedliche Techniken haben dabei unterschiedliche Wirkungen:
Parallelschraffur: Linien verlaufen gleichmässig in eine Richtung.
Kreuzschraffur: Zwei oder mehr Schichten von Linien überkreuzen sich.
Freie Schraffur: Linien verlaufen in unterschiedliche Richtungen und können dem Objekt oder der Form folgen.
Wie viel Druck du ausübst, wie schräg du den Bleistift hältst und wie spitz oder stumpf er ist, spielt dabei auch eine wichtige Rolle. Entsprechend viel Freiheiten hast du beim Schraffieren, und am Anfang kann das ganz schön überwältigend sein. Schliesslich kannst du Dunkelheit durch Dichte, Druck und/oder Dicke der Striche erzeugen – die Schwierigkeit liegt somit nicht nur in der Wahl der Richtung(en) und Länge(n) der Linien. Die richtige Methode hängt dabei nicht allein von deinen Vorlieben ab, sondern auch vom Material des Objekts.
Hier geht probieren über studieren. Die richtige Technik für dich findest du nur, wenn du verschiedene ausprobierst.
So übst du das
Probiere die drei wichtigsten Schraffurtechniken aus: Parallelschraffur, Kreuzschraffur und freie Schraffur. Variiere dabei in Druck, Abstand und Richtung der Linien. Tobe dich erst auf einem leeren Blatt Papier aus, experimentiere frei, und versuche diese Übung dann mit der obigen zu vereinen und dreidimensionale Formen zu schraffieren. Beginne mit einem Druckbleistift – so musst du dich nicht um Spitzen oder Haltungswinkel kümmern. Später kannst du auf einen normalen Bleistift umsteigen und mit Schräge und Spitzgrad experimentieren. Verwischtechniken mit Finger oder Taschentuch solltest du vorerst vermeiden.
Täglich fünf bis zehn Minuten reichen vollkommen aus. Wichtig ist nicht die Dauer, sondern die Regelmässigkeit. Sobald du sicher genug bist, kannst du diese Übung zum Aufwärmen benutzen – kurz bevor du mit der Schraffur deiner neusten Skizze beginnst.
Fehler zulassen und Feedback einholen
Fehler gehören dazu und sind ein wichtiger Bestandteil des Lernprozesses. Nicht umsonst bezeichnete Bob Ross sie stets als «Happy Little Accidents». Trau dich einfach! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Fürchte dich nicht vor Fehlern und habe einfach Spass – Fehler sind schliesslich etwas ganz Natürliches, und es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Lerne aus ihnen und versuche deine Fähigkeiten aktiv zu verbessern. Setze dich kritisch mit deinen Bildern auseinander, beurteile sie und nimm gedanklich Notiz davon, was dir gut gelungen ist und was du beim nächsten Mal besser machen möchtest. Hole dir Feedback von Personen ein, die sich mit der Materie auskennen.
Kleiner Tipp
Dir fällt es schwer, Ungereimtheiten auf deiner Skizze auszumachen? Damit bist du nicht allein: Viele bemerken Fehler erst nach der Fertigstellung ihrer Zeichnungen. Das liegt daran, dass sich dein Auge (beziehungsweise dein Gehirn) an die Skizze gewöhnt – und wenn es sich erstmal an sie gewöhnt hat, kann es das «Ungewöhnliche» an ihr nicht mehr so gut erfassen. Da könnte etwas Abstand vom Bild helfen, oder ein ganz einfacher Trick: Betrachte die spiegelverkehrte Version deines Bildes. Dafür kannst du es fotografieren und das Foto einfach kippen. So gewinnst du einen neuen Blick auf das Bild und kannst Ungereimtheiten besser ausmachen. Diese Methode ist weit verbreitet und wird vor allem von Digital Artists genutzt.
Routine aufbauen
An einer festen Routine führt leider kein Weg vorbei. Motorische Fähigkeiten entwickeln sich nicht über Nacht – sie müssen regelmässig trainiert werden. Eine gute Nachricht vorweg: Du brauchst keine stundenlangen Übungseinheiten. Oft reicht schon ein kleines, aber regelmässiges Zeitfenster mit gezielten Übungen, um sichtbare Fortschritte zu erzielen. Ein paar Minuten täglich sind meist wirkungsvoller als ein mehrstündiger Marathon einmal die Woche.
Mit der Zeit wird dir das Zeichnen immer leichter fallen. Deine Augen-Hand-Koordination verbessert sich, dein Blick für Details wird schärfer. Du wirst merken, wie dein Stift sicherer über das Papier gleitet, und wie du nach und nach auch komplexere Motive wie Menschen oder Tiere bewältigen kannst. Fang aber auch hier nicht gleich mit dem ganzen Körper an. Beginne mit Einzelteilen wie einem Auge, einer Nase oder einer Hand, setze auch diese aus einzelnen Formen zusammen und nutze Referenzbilder. Niemand erwartet, dass du Gesichter oder Posen einfach aus dem Kopf zeichnen kannst. Auch das muss erst gelernt werden.
Eine Routine könnte beispielsweise folgendermassen aussehen:
Täglich 5-10 Minuten Formen und Linien üben. Anfangs beliebige losgelöste Formen, irgendwann dann einfache Objekte, die sich aus Formen zusammensetzen.
Täglich 5-10 Minuten Schraffuren üben. Anfangs beliebig und separat, irgendwann als ergänzender Schritt zur ersten Übung.
1x wöchentlich ein Stillleben zeichnen – je besser du wirst, desto schwierigere Motive wählst du aus.
1x alle 2 Wochen zeichnest du frei aus dem Kopf heraus, angefangen bei simplen Objekten, die du schon mal als Stillleben gezeichnet hast.
Jetzt bleibt nur noch, den Prozess zu geniessen
Möchtest du dich an diesem Hobby versuchen? Dann schnappst du dir am besten gleich einen Zeichenblock und legst los. Gehe die Sache mit Geduld an und versuche dich nicht mit anderen zu vergleichen, sondern vielmehr von ihnen zu lernen. Sieh dir Videos an und lasse dich von Schritt-für-Schritt-Tutorials leiten – das ist schliesslich der grosse Vorteil unseres Zeitalters. Fasse Mut: Auch du kannst zeichnen lernen, und du musst deinen Zeichenblock niemandem zeigen, ehe du dich wohl damit fühlst.
Quelle Titelbild: Unsplash | A. C.
Content Marketing Managerin
Wenn ich mal nicht gerade damit beschäftigt bin, meiner literarisch-kreativen Ader freien Lauf zu lassen, stecke ich höchstwahrscheinlich in einem Netflix-Marathon fest («Nur noch eine Folge!»), unterhalte ich mich angeregt über die verschiedensten Themen, lese ein gutes Buch oder fordere mich selbst mit einem neuen Hobby heraus. Meine Wissbegierde kennt keine Grenzen, und hier habe ich die Möglichkeit, sie auszuleben und mit anderen zu teilen.
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